Textkunst von Akimaus

Der Wüstenwanderer

Der Wüstenwanderer

Ich möchte diese Traumgeschichte aufschreiben, ehe ich ihren Inhalt vergesse.

Ein Mann mittleren Alters läuft durch eine Wüste. Die Sonne ist gleißend. Seine Sicht verschwimmt durch die Hitze, und um ihn herum legt sich ein dunkler Schleier. Schweiß perlt von seiner Stirn. Sein langer, verklebter Pony hängt ihm ins Gesicht. Er sieht kaum noch etwas. Es gibt nichts zu sehen in der Einöde, in dieser endlosen langen Wüstenlandschaft. Pflanzen sind bereits verdorrt, ehe sie hätten sprießen können. Der heiße Boden merzt alles Leben aus. Nur die Gerippe von ausgetrockneten Sträuchern dienen dem Wanderer als stille Wegweiser.

Wie lange er schon wandert, das weiß er nicht mehr. Aus Stunden wurden Tage, aus Tagen Wochen und aus Wochen Monate. Alles verschwimmt und zieht sich zusammen in dieser nie enden wollenden Einöde. Die Einsamkeit ist sein einziger treuer Begleiter. Die nackten Füße des Mannes tragen Blasen. Sein gesamter Körper ist übersät davon. Unzählige Geziefer laben sich an den Stoffetzen, die einst seine Kleider waren. Er kann nichts dagegen tun. Er ist ihr Wirt, wohl wissend, dass das Ungeziefer, das sich gerade auf seinem Körper befindet, nach seinem Tod seinen Leichnam befallen und in sämtliche Öffnungen hineinkriechen wird, um seinen Körper als Triumph der Zeit von innen heraus auszuweiden.

Er tritt auf eine Zikade. Nachdem sein Schritt sich löst, fliegt diese unversehrt davon, so schwach und kraftlos sind ihm inzwischen die Glieder. Der Mund des Mannes ist halb geöffnet. Eine zähflüssige, durchsichtige Wand aus Speichel verbindet seine Ober- und Unterlippe miteinander, wie ein seidener Vorhang aus triefender Flüssigkeit.

Der Mann hat die Krankheit. Es gibt nur noch wenige Menschen auf diesem Planeten. Die Krankheit hat sie allesamt ausgerottet. Einst war der Mann in seiner Heimat eine hoch angesehene Person. Er entstammte dem Adel. Es fehlte ihm an nichts. Er hatte eine liebende Frau und mehrere kleine Kinder, die ihren Vater aufrichtig liebten und deren Augen vor Freude zu strahlen begannen, wenn er ihnen nach der Rückkehr seiner langen Reisen Geschenke mitbrachte. Die Krankheit kennt keinen Status. Sie unterscheidet nicht zwischen reich und arm. Sie macht keinen Halt vor dem Familienglück. Sie zerstört die zarten Bande der Liebe, in dem sie Stück für Stück ihre Opfer fordert. Jedes Kind erlag dem Fieber. Seine Frau starb zuletzt. Sie alle sind gestorben. Er allein ist übriggeblieben. Er wandert fortwährend auf der Suche nach einem Heilmittel.

Und hier, irgendwo in dieser gleißenden Hitze inmitten der Wüste, hatte er es schließlich gefunden: die Wurzel einer krautähnlichen Pflanze. Wann er sie genau fand, dass weiß er schon längst nicht mehr. Tage um Tage hatte er in der heißen Wüstenerde danach gegraben. Er hatte nichts außer seinen bloßen Händen als sein Werkzeug gehabt. Seine Fingerkuppen sind dadurch völlig abgenutzt und herunter geraspelt. Die Wurzel, die er in seiner Hand mit sich führt, ist schmächtig und feingliedrig. Ihre Farbe ist dunkelbraun. Verzweifelt und vor Hunger getrieben hatte er davon gegessen. Die Wurzel hatte ihn genährt und er ist dadurch zu Kräften gekommen.

In weiter Ferne nähern sich flackernde Gestalten. Es ist ein Nomadenstamm. Sie sind mit Speeren bewaffnet. Der Mann läuft auf sie zu. Er weiß nicht, ob diese Gestalten real sind oder doch bloß das Hirngespinst seiner sich allmählich zersetzenden Psyche, ein Trugbild seiner schwindenden Hoffnung. Doch er geht weiter. Zu laufen, sich unermüdlich zu bewegen, das ist nunmehr seine einzige Daseinsberechtigung. Er hat nichts anderes mehr. Er geht um des Gehen Willens.
Die Nomaden nähern sich, bis sich ihre Blicke mit denen des Mannes kreuzen. Schweiß perlt von der Stirn des Mannes hinab in seinen verklebten Bart. Er öffnet den Mund und Worte entweichen: „Hört mich an. Ich habe ein Heilmittel gefunden. Ich halte es hier in meinen Händen!“ Er öffnet seine Hand und streckt den ungläubigen Betrachtern die Wurzel entgegen. Da erhebt plötzlich einer der Nomaden das Wort: „Er hat die Krankheit und spricht im Wahn! Fasst ihn nicht an und lasst ihn nicht näherkommen!“

Der Mann keucht mit letzter Kraft: „Hört ihr denn nicht, was ich sage? Ich bin geheilt. Ich bin doch geheilt!“ Als er sich den Nomaden nähern will, wird er von deren Speeren attackiert und durchstochen. Schwer wie Blei fällt er in den Sand. Eine aufgewirbelte Staubwolke legt sich über ihn.

„Was für ein Narr“, spricht der Nomadenkommandant: „Ein Heilmittel hat es nie gegeben!“ Die weit aufgerissenen Augen des Mannes sind gläsern. Allmählich drehen sie sich nach hinten. Der Mund des Mannes ist weit geöffnet. Die Fliegen und Nissen kreisen um ihn und suchen sich ihre Schlupflöcher. Seine Hand hält immer noch eng umklammert die Wurzel. „Ich habe doch ein Heilmittel!“ Es scheint, als würde der heiße Wüstensand seine letzten Worte an die entferntesten Orte der Steppe mit sich tragen.

Nachwort:
In einem Meer von Nichts steigt die Sonne hell empor. Nur das leise Brummen einer Zikade durchbricht die Stille.

Akina, 16.11.2020

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