Medizinisch-wissenschaftliches Interesse

Foto: Dani gut gelaunt in einem weinroten Pullover in meinem Snoozleraum.
Dani in meinem Snoozleraum

Heute kann ich leider nicht mehr genau rekonstruieren, wann Lothar und ich uns das erste Mal begegnet sind. Wir haben uns auf jeden Fall im Rahmen der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung behinderter Menschen 1995 / 1996 in Mainz kennen gelernt. Irgendjemand erzählte mir damals, dass Lothar das Tourette-Syndrom hat.

Als Ärztin hatte ich zwar eine ungefähre Vorstellung davon, welche Symptome bei einem Tourette-Syndrom auftreten können, hatte aber noch nie jemanden mit einem solchen Syndrom erlebt. Als erstes sind mir seine auffälligen Armschleuder-Bewegungen und die Vokaltics, insbesondere die Koprolalie aufgefallen, also der Zwang, sexuelle und obszöne Begriffe zu äußern und herauszuschreien. Es war wie aus dem Lehrbuch!

Interessanterweise kannte ich auch einen anderen Lothar mit ähnlichen Tics, jedoch ohne ein diagnostiziertes Tourette-Syndrom. Er war der Bruder eines damaligen Freundes. Er machte fast die gleichen Armbewegungen wie Lothar und hat zu Beginn eines Satzes die Anfangsbuchstaben eines Wortes in einer Art Stottern immer wiederholt. Eine andere Auffälligkeit bei ihm bestand darin, dass er immer wieder eine Gangstörung hatte, bei der er manchmal zwei Schritte vor und einen zurückging.

Eine andere Eigenart war, dass er es bewusst vermied, nachts mit dem Kopf in Richtung seines Ausbildungsortes zu schlafen, weil seine Ausbildung mit viel Stress verbunden war. Und wenn einer seiner Brüder ein Kleidungsstück von ihm getragen hatte, zog er es nicht mehr an. Nachdem ich Lothar Schwalm kennen gelernt habe, wurde mir im Nachhinein klar, dass es sich bei seinem Namensvetter wahrscheinlich auch um ein Tourette-Syndrom handeln muss.

Persönlich hatte und habe ich nie Berührungsängste gegenüber Lothar empfunden. Ich habe seine Tics eigentlich immer eher mit einer gewissen Neugier unter dem medizinisch-wissenschaftlichen Aspekt betrachtet.

Da ich Lothar und seine Behinderung bewusst erst nach seiner medikamentösen Einstellung wahrgenommen habe, habe ich eigentlich nie eine starke Veränderung in der Intensität und Häufigkeit seiner Tics festgestellt, abgesehen vielleicht von einer leichten Verstärkung in Momenten emotionaler Erregung oder bei großer Anspannung.

Im Laufe der Zeit habe ich Lothar besser kennen gelernt und gemerkt, dass er sehr offen und direkt mit seiner Behinderung umgeht. Das hat es mir sehr leicht gemacht, immer wieder Fragen zu stellen und damit auch mehr über seine Hintergründe und Geschichte zu erfahren.

Foto: Ein nachdenkliches bis skeptisches Portrait von Dani in Großaufnahme.
Dani wirkt hier nachdenklich

Heute sehen wir uns relativ regelmäßig und sind ziemlich vertraut miteinander, weshalb er mich auch gefragt hat, ob ich so einen Aufsatz für ihn schreiben würde. Ich habe spontan zugesagt und heute war es soweit. Beim Schreiben dieses Artikels ist mir bewusst geworden, dass das Formulieren der Inhalte überhaupt nicht so schwer war, wie ich anfangs dachte. Nachdem ich erst mal angefangen hatte, kam ein Gedanke zum nächsten und ehe ich mich versah, war der Text geschrieben.

Ich wünsche Lothar alles Gute für seine Seite im Netz, und dass vielleicht der eine Freund oder die andere Freundin auch noch die Zeit und Muße findet, hier von ihrer Freundschaft zu Lothar und der Bedeutung und Entwicklung seines Tourette-Syndroms im Kontext ihrer Beziehung zu erzählen.

Dani am 14. Oktober 2012