...als wollte er einen Weltrekord aufstellen...
Wie ich Lothar kennengelernt habe: Mein erster Eindruck
Es war irgendwann im August vorletzten Jahres: Unser Praxisreferat hatte einen Termin mit unseren Anleitern vorbereitet, und die Professoren und Dozenten hielten Vorträge darüber, wie sie uns Studierenden wünschten, langsam Fuß in der sich anbahnenden Praxis zu fassen. Ich weiß noch: Die ganzen Räume und Flure waren voll von herumwuselnden Studenten, die verzweifelt ihre Anleiter suchten.
Frau X, eine Mitarbeiterin des Praxisreferats, kam auf mich zu. Sie war freudestrahlend, ganz so wie immer, und warf mir voller Vorfreude ein Lächeln zu. „Ach, Frau Y, ich habe schon ihren Anleiter getroffen! Er sitzt draußen auf der Bank. Gehen Sie doch mal hin“. Wohlwissend, dass ich vielleicht nicht so gut sehe, gab sie mir also bewusst einen Wink, wo ich meinen zukünftigen „Boss“ antreffen könnte.
Ich war sehr nervös und trotzdem stieg langsam die Vorfreude in mir hoch. Ich dachte, dieser Herr Schwalm wäre ein absoluter Rollstuhl-Experte und freute mich insgeheim schon darauf, ihm mal mein Modell vorzuführen. Da gab es überall ein Schräublein, das sich danach sehnte, angezogen zu werden, mein Fußbrett, das heraussprang, wenn ich nicht aufpasste – woran sich bis heute auch nichts geändert hat –, all diese kleinen Feinheiten, so dachte ich, würde sich mein Anleiter mit seinem geübten Auge einmal näher anschauen (natürlich pro bono versteht sich, ich Sparfuchs).
Gesagt getan: Ich rollte also voller Vorfreude nach draußen, geradewegs auf die sich aneinander reihenden Bänke zu, und da war er: Ein kräftiger, wenn auch etwas klein wirkender – weil sitzender – Mann. Mein erster Gedanke war: Typisch Praxis-Mensch: Bodenständig und robust mit Knickerbocker-Hosen und einer kleinen runden Brille, gepaart mit einem Bart und einer Fast-Glatze.
Ich rollte also schnurstracks auf ihn zu, und fing sofort an, zu reden. Nachdem wir uns kurz begrüßt hatten, zählte ich ihm schon die Dinge auf, die an meinem Rollstuhl dringend überholungsbedürftig waren. Schnell musste ich merken, dass Lothar, dessen Namen ich mir noch nicht richtig einprägen konnte, kein Fachmann für Rollstühle war, sondern als Berater im ZsL Mainz e.V. eingesetzt wurde.
Nach dem kleinen Anfangsplausch gingen wir rein zu den anderen. Die hatten sich inzwischen schon in Reih‘ und Glied eingeordnet und auf ihre Plätze im großen Foyer gesetzt. Mein Professor, Dr. Z, stimmte zum Anfang eine Rede zu der Thematik „Humor und soziale Arbeit“ an. Dabei bediente er sich einer Masterthesis einer Studentin unseres Jahrgangs und witzelte darüber, dass er das Glück habe, deshalb nicht so viel vorbereitet haben zu müssen.
Ich war etwas gelangweilt und stellte meine Augen auf Jalousien. Plötzlich merkte ich, wie Herr Schwalm neben mir aus heiterem Himmel seinen Mund aufriss. Ich dachte erst, ihm ging es so wie mir und ihm wäre aus reiner Langeweile ein Gähnen entwischt. Doch plötzlich geschah es ein zweites Mal und ich wagte einen Blick herüber. Das war kein gewöhnliches Gähnen, was ich da sah.
Er riss seinen Mund wahnsinnig weit auf, so, als wollte er einen Weltrekord aufstellen. Das nahm überhaupt kein Ende. Ein großer Schlund war das, in den man hineinfallen konnte. Ich stellte mir vor, wie sein Rachen sein Gesicht teilte und die obere Hälfte ähnlich wie das Verdeck eines Cabrios einfach nach hinten klappen würde. Und für einen kurzen Moment hatte ich wirklich Angst, dass genau dies passieren könnte. Irgendetwas stimmte da nicht.
Ich erinnerte mich unwillkürlich daran, dass ich als kleines Kind einen elektrisch betriebenen Spielzeughund von Barbie hatte. Er hieß „Ginger“ und hatte dunkelbraunes Fell. Dieser Hund konnte sich selbständig durch gelbe Noppen an seinen Pfoten fortbewegen und vorwärts laufen. Ursprünglich sollte er die dazu passende Skater-Barbie hinter sich herziehen. So wurde das Produkt in der Werbung angepriesen.
Mein sechsjähriges Ich liebte dieses Spielzeug abgöttisch. Es war beinahe wie ein richtiger Hund. Und so dauerte es nicht lange, bis ich eines Tages beschloss, Ginger zu baden. Immerhin werden richtige Hunde auch gebadet, so dachte ich.
Ich füllte eine Plastikschüssel bis zum oberen Rand hin mit Leitungswasser und steckte den noch angeschalteten Ginger kopfüber in sein kaltes Bad. Plötzlich gab er ein grelles Piep-Geräusch von sich, das so laut und schrill war, dass ich erschrak. Nach einer Weile rührte er sich dann gar nicht mehr. Ich hatte ihn in meiner Unwissenheit und kindlichen Unschuld kaputtgemacht.
Als ich Lothar so von der Seite betrachtete, wie er in seinen Tics – wie ich später lernte – innehielt, dachte ich unwillkürlich an dieses „Piep-Geräusch”. Nach ein paar Sekunden verschwand dieser Gedanke aber wieder und ich wandte mich wieder diesem „unglaublich interessanten“ Vortrag zu.
In meiner ersten Woche als Praktikantin im ZsL Mainz e.V. hörte ich manchmal Schreie und obszöne Wörter. Erst dachte ich, der arme Sozialarbeiter im Nebenraum hat mit einem Trunkenbold zu tun (in dieser Berufsbranche ja nichts Ungewöhnliches).
Als dann diese Schreie nicht abnahmen und weiterhin so anstößig waren, ordnete ich die Quelle der Stimme einem Mitarbeiter selbst zu, ohne zu wissen, dass es sich bei dem Schreienden um Lothar handelte. „Man, das ist ja ein geiler Laden hier. Hier können sich die Mitarbeiter nach Herzenslust über andere auslassen, Hammer!“, lachte ich in mich hinein.
Trotzdem wollte ich immer noch wissen, wieso Lothar manchmal seinen Mund so aufriss und als wir dann endlich unter vier Augen waren, sprach ich ihn kurzerhand und ohne lange zu fackeln direkt darauf an (ich hätte es auch schon an der Hochschule getan, aber ich dachte mir, die anderen Anwesenden müssen dieses Gespräch ja nicht unbedingt mitbekommen).
Er schaute mich ganz erstaunt an und meinte verdutzt: „Habe ich dir davon nicht erzählt? Das ist ja ein Ding!“ Währenddessen performte er Schattenboxen, und zugleich begann er, mir seine Geschichte zu erzählen. Das war unser erstes von vielen tiefgründigen Gesprächen, die sich nach meinem Praktikum noch weiter intensivierten und letztlich bis heute in einer Freundschaft mündeten.
Ich muss auch gestehen, dass ich zu Beginn wegen meiner eigenen Behinderung zusammenzuckte, wenn er urplötzlich und aus heiterem Himmel anfing, zu schreien. Doch ich wusste nicht zuletzt durch meine Erfahrung, dass ich mich irgendwann daran gewöhnen würde und meine getriggerten Krämpfe von selbst nachlassen würden.
Und so war es dann letzten Endes auch. Heute kann Lothar neben mir in aller Seelenruhe aus voller Brust schreien und brüllen, und ich sitze daneben und tippe SMS oder ergieße mich wie immer nach Herzenslust in meinem unerschöpflichen Redeschwall.
Akina, Bad Kreuznach, 05. März 2017