...der erste und einzige...
Lothar ist der erste und bisher einzige Mensch mit Tourette-Syndrom, den ich persönlich kennengelernt habe. Ein paar weitere Tourette-Betroffene habe ich in einem Dokumentarfilm gesehen, auf den ich später noch zurückkommen werde.
Ich lernte Lothar im Rahmen einer Peer Counseling-Weiterbildung kennen, also in einem Zusammenhang, in dem es geboten war, sich mit dem Thema Behinderung auseinanderzusetzen, und in dem wir lernen sollten, uns auf die Behinderungen anderer Menschen einzulassen.
Die Behinderung war dadurch von Anfang an Thema, was sonst oft nicht so ist, wenn ich jemand kennenlerne. Meistens warte ich eine passende Gelegenheit ab, um jemand danach zu fragen oder ich lasse es ganz bleiben, wenn ich selbst sehe, was es ist.
Bei mir völlig unbekannten Beeinträchtigungen bin ich allerdings doch neugierig und frage nach. Dabei interessiert mich dann weniger das Medizinische, als vielmehr die Frage, wie sich etwas auf den Alltag eines Menschen auswirkt.
Lothar erklärte also ganz zu Anfang seine Behinderung. Mir war das Tourette-Syndrom unheimlich. Vielleicht wäre ich, wenn es möglich gewesen wäre, jemandem mit einer so unberechenbaren Behinderung lieber aus dem Weg gegangen. Ich hatte Angst vor plötzlichen lauten Ausbrüchen, die mich arme, schreckhafte Spastikerin würden zusammenzucken lassen – oder in angespannter Erwartung darauf warten lassen, dass ich bestimmt gleich zusammenzucken würde, was noch viel schlimmer ist.
Wer meine Behinderung kennt, weiß, was ich meine. Und so wie Lothar aus seinem früheren Leben berichtete, lag ich mit meinen Vorstellungen nicht falsch. Aber aktuell, das heißt 1998/99, war Lothar's Tourette-Syndrom durch die Wirkung von Medikamenten so stark gedämpft und mithin leise, dass selbst für mich nichts Erschreckendes von ihm ausging.
Andere Aspekte dieser Behinderung, etwa, dass Bewegungen gelegentlich einfach „passieren“ anstatt willentlich ausgeführt zu werden, sind mir aufgrund meiner eigenen Behinderung nur zu vertraut. Etwas gewisses Zwanghaftes, mit bestimmten Dingen nicht aufhören zu können, obwohl man es will, ist mir ebenfalls nicht fremd. Meinen ersten Eindruck, dass unsere Behinderungen sozusagen nicht kompatibel seien, habe ich also revidiert.
Im Laufe der aus mehreren Wochenblöcken bestehenden Weiterbildung kamen Lothar und ich uns näher, so dass wir ein Paar wurden, für eine relativ kurze Zeit und als Fernbeziehung mit mehreren 100 km Distanz.
Ohne Übertreibung kann ich sagen, dass ich Lothar's Behinderung die meiste Zeit vergessen hatte. Seine Tics bemerkte ich zwar, schenkte ihnen aber keine Aufmerksamkeit. Ich wusste ja, dass nicht ich gemeint war, wenn er „pissen“, „ficken“ oder „Arschloch“ murmelte.
Einen Tic gab es allerdings, auf den ich immer wieder hereinfiel: Lothar sagte: „Au!“, und es wirkte regelmäßig so echt, dass ich jedes Mal entgegnete: „Hast du dir weh getan?“, um im selben Moment zu erkennen, dass es nur ein Tic gewesen war. Ob Lothar es heimlich lustig fand? Wahrscheinlich war es eher so, dass das Tourette-Syndrom es lustig fand, mich zu verarschen. Das wäre jedenfalls typisch für diese verrückte Behinderung.
Was mich erstaunte, war, dass es mir, wenn wir gemeinsam unterwegs waren, völlig egal war, wie die Leute auf Lothars Tics reagierten. Ich bemerkte eher selten, ob sie überhaupt reagierten. Niemals hätte ich so getan, als gehörte ich nicht zu Lothar. Im Gegenteil: Ich freute mich, dass ich einen Freund hatte und zeigte es. Ob er eine Behinderung hatte oder nicht, spielte in diesen Momenten keine Rolle.
Auch hatte ich nie das Gefühl, ich müsste zu jemandem sagen: „Er kann nichts dafür, er macht es nicht absichtlich“ oder: „Er meint es nicht so“. Es war – wenn überhaupt – deren Problem, wie sie mit den Tics umgingen.
Allerdings muss ich hinzufügen, dass es auch ganz andere Tics gibt. Die Situation wäre eine andere, wenn jemand, wie ich es in dem eingangs erwähnten Dokumentarfilm gesehen hatte, neben mir stehen und lauthals „Heil Hitler!“ rufen würde. Da wäre für mich, selbst wenn ich ganz genau wüsste, dass es vom Tourette-Syndrom kommt, der Spaß und die Toleranz zu Ende.
Mit jemandem, der das macht, könnte ich einfach nicht gemeinsam auf die Straße gehen. Ich glaube, nicht einmal zu Hause, wo es außer mir niemand hören würde, könnte ich einen Nazi-Spruch ertragen, sei er ernst gemeint oder nicht.
Bei diesem Menschen hörte man, dass er seine Tics mit einer gänzlich anderen Stimme sprach als seine eigene Rede. Daran konnte man die Tics deutlich erkennen, aber das Phänomen ängstigte mich noch mehr, denn so ungefähr würde ich mir vorstellen, dass jemand spräche, der – ich kann es nicht anders sagen – vom Teufel besessen wäre. Natürlich könnte es trotzdem so sein, dass ich mich im wirklichen Leben daran gewöhnen und mein Unbehagen überwinden würde, wenn ich diesen Menschen persönlich kennenlernen würde.
Derselbe Tourette-Betroffene sagte auch „Arschloch!“, aber er murmelte es nicht wie Lothar vor sich hin, sondern baute sich direkt vor einer fremden Person auf, um es dieser ins Gesicht zu brüllen. Dann wollte ich ebenfalls nicht die Freundin sein, die daneben steht.
Ein anderer Betroffener in dem Dokumentarfilm trieb zwanghaft in der Küche Messerspielchen hart am Rande der Selbstgefährdung, die nicht nur gefährlich aussahen, sondern es wahrscheinlich auch waren. Als dessen Freundin hätte ich zumindest während solcher Zwangshandlungen den Raum verlassen müssen, damit ich es wenigstens nicht mit ansehen muss.
Obwohl es schon über zehn Jahre her ist, dass ich diesen Film gesehen habe, habe ich diese Szenen nie vergessen.
Doch zurück zu Lothar: Im Laufe der Zeit bekam ich mit, dass es ihm selbst nicht egal war, wie die Leute reagierten. Er gab sich außer Haus sehr viel Mühe, seine Tics zu unterdrücken, somit war die Sache für ihn weitaus anstrengender als für mich. Abends zu Hause kamen die Tics dann manchmal umso stärker, aber auch da ließ Lothar sie nicht voll heraus, weil ich da war.
Ob es vielleicht besser so war, kann ich nicht beurteilen, denn ich kenne die Tics nicht, wenn sie ungebremst ihr volles Ausmaß und ihre volle Lautstärke erreichen. Lothar, der wusste, dass ich mich anfangs vor den Tics gefürchtet hatte, hatte sie vielleicht gerade deshalb mir zuliebe in Grenzen halten wollen. Ich hatte mitunter das Gefühl, dass diese Rücksichtnahme nicht nötig gewesen wäre, aber vielleicht wusste Lothar es aus Erfahrung besser.
Als ich Lothar kennen lernte, nahm er seine Medikamente schon seit Jahren. Ich wusste, dass diese Medikamente kein Spaß sind. Lothar sprach oft davon, wie sie ihn verändert hatten, und haderte jedes Mal damit, dass er sie nahm.
Die auffälligste Nebenwirkung war, dass er sehr viel Schlaf brauchte. Ich weiß noch, wie meine Mutter sich anfangs wunderte, wenn ich um 20:00 Uhr sagte, ich wolle noch meinen Freund anrufen, bevor er ins Bett gehe. Eine weitere Folge der Medikamenteneinnahme war, dass Lothar seitdem sehr stark an Körpergewicht zugenommen hatte. Das störte ihn allerdings mehr als mich, denn ich hatte ihn bereits mit dem größeren Umfang kennen gelernt und akzeptierte ihn so wie er war.
Im Gegensatz zu mir hatte Lothar auch die Zeit vor den Medikamenten in Erinnerung, und wenn er an die damaligen Erlebnisse dachte oder mir davon erzählte, überwogen doch jedes Mal die Argumente, die schon damals für die Einnahme der Medikamente gesprochen hatten. Daran hatte sich kaum etwas geändert, außer dass es Lothar in der Zwischenzeit gelungen war, die Dosis der Medikamente ohne merkliche Folgen zu reduzieren.
Dass Lothar sich für die Medikamente entschieden hatte, bedeutete für mich, dass ich mich vor dem typischen Tourette-Syndrom mit seinen plötzlichen Ausbrüchen nicht zu fürchten brauchte. Ich bekam die „gezähmte“, erträgliche Version. Für das gesamte übrige Umfeld von Lothar galt, bzw. gilt das natürlich genauso.
Neben den Medikamenten machte mir auch die Tatsache, dass wir nicht zusammen wohnten und uns nur selten sahen, den Umgang mit den Auswirkungen von Lothars Tourette-Syndrom leichter; denn ich bekam es einfach nicht so oft mit, als dass es mir wirklich hätte auf die Nerven gehen können. Wie gesagt, Lothar ging es, glaube ich, mehr auf die Nerven – aber er hat es ja auch selbst und zwar andauernd.
Ich finde schon lange, dass das unangenehmste an einer Behinderung die Tatsache ist, dass sie immer da ist und man nie eine Pause von ihr machen kann. Deshalb ist es wichtig, im Alltag für Momente zu sorgen, in denen man sie vergisst, bzw. in denen sie einfach keine Rolle spielt. Ich glaube, dass wir beide zusammen oft solche erholsamen Stunden erlebt haben.
Uschi am 02. November 2012