Du ticst absolut richtig!

Foto: Susanne liegt ihrem Führhund Filou gegenüber, und beide schauen in die Kamera.
Susanne und ihr Führhund

Hamburg, 02.04.2013

Lieber Lothar,

Dich und Dein Tourette habe ich im März 2000 im ISBB Trebel kennen gelernt. Mein Studium ging langsam zu Ende und ich suchte nach langfristigen Betätigungsfeldern. In Trebel haben wir in unserer Arbeit zum Thema Behinderung und Sexualität damals Neuland betreten. Eigentlich habe ich vor allem nach mir selbst gesucht. Dabei habe ich ebenfalls Neuland betreten.

Als Kind schon sehbehindert bin ich aufgewachsen zwischen Gewalt, emotionaler Kälte und Chaos im Inneren meiner Familie. Eingezwängt in überkommene Konventionen, die vertuschen sollten, was da war, war ich kein freier Mensch. Für mich gab es weder das Recht auf eigenständige Gedanken, noch auf Kreativität oder einen sonstigen Entfaltungsraum.

Ich sollte meiner Familie keine Schande machen. Überhaupt sollte ich niemandem Schande machen, zur Last fallen, oder gar ein Bedürfnis nach Zuneigung und Nähe haben. Jahre der Auseinandersetzung haben mich zumindest soweit befreit, sodass ich die Suche beginnen konnte.

Zwischen meiner Erziehung in den klassischen institutionellen Systemen - verkleidet im modernen Gewand - und einer Familie, die im eigenen Haus Gefangene ihrer selbst auferlegten Einschränkungen und Konventionen war, suchte ich den Austausch von der fachlichen, aber auch von der kreativen, persönlichen Seite.

Es hat ein paar Treffen gedauert, bis wir uns näher kamen und anfreundeten. Ich fand Dich von Anfang an sehr spannend! Mit einer so offenkundig auffälligen Erkrankung als Ausdruck deines Protestes gegen das, was Dir angetan wurde.

Wir haben beide ganz unterschiedliche Arten, unseren Missbrauch und die erlebten, sehr vielschichtigen Gewalterfahrungen zu verarbeiten, bzw. mit ihnen zu (über-) leben.

Foto: Susanne in einem schönen, großen Portrait grinst, was das Zeug hält.
Ein Portrait von Susanne

In unserer nun 13-jährigen Freundschaft haben wir viele und intensive Gespräche geführt. Wir besuchten gemeinsam Workshops und auch uns gegenseitig. Du bist bis heute ein sehr kreativer, manchmal - wie Du selbst mal gesagt hast - ein fast exhibitionistischer Mensch. Expressionistischer, eben sehr offen, würde ich eher sagen.

An Dir und Deinen Tics habe ich gesehen, dass "anders" zu sein, bzw. dazu zu stehen, und sich nicht täglich dafür schuldig zu fühlen, möglich ist. Das kreative Ausleben von Tics und Schnörkeln macht das Überleben lebendig und nimmt ihm die Schwere. Dabei ist der Tic an sich ja schon eine künstlerische Ausdrucksform. Diese zu entwickeln bedarf schon einer Menge Kreativität und der Fähigkeit zum Querdenken!

Sicher war das auch für Dich ein langer Prozess, von dem ich bestimmt nur Bruchstücke kenne. Du bist ein Lebenskünstler. Du lebst und das ist Kunst. Erst waren es die Filme, dann später das Schreiben. Und sicher hast Du so manche andere Ausdrucksform entwickelt, um kreativ zu überleben. Dein Tourette eben.

Es kann wohl kaum eine facettenreichere Art geben, die "schwarze Seele" zu kanalisieren, als ein Tourette. Es wird zum Vehikel für etwas, was für manchen bedrohlich scheinen mag. So bitter die Auseinandersetzung damit sein mag, und so sehr es Dich Kraft kostet, Tag für Tag Dein Bestes zu geben. Du wirkst nicht abgeklärt oder intellektuell, sondern kompetent und versöhnt. Und so sprichst Du auch.

Auch dann, wenn Du eine Deiner "Neurotransmitternächte" durchwachst, in denen es Dir schlecht geht und Du keinen Schlaf findest. Aus Ärger und schlechter Energie und aus dem Angriff der "Schwarzen Seele" wird dann oft etwas Künstlerisches und Kreatives. Du hast einen sehr offenen Weg gewählt und viele gefunden, die ihn mit Dir gehen.

Ohne dies zu beabsichtigen, bist Du so eine Art Lehrer geworden. Ich sage nicht Vorbild, denn ich habe kein Tourette. Aber ich habe von Dir viel zum Thema "darstellende Selbstakzeptanz" und darüber, diese kreativ zu entwickeln, gelernt und tue dies heute noch.

Foto: Susanne in knallrotem Anorak im E-Rolli und Filou im Führhundgeschirr links neben ihr.
Susanne mit Filou unterwegs

Mir ist nichts Menschliches mehr fremd und ich begegne vielen Ausnahmemenschen. Von Dir habe ich gelernt, dass es keine Schwäche ist, die Offenheit und die Achtung vor dem "Sosein" aller Menschen offen zu leben und zu äußern.

Ich hoffe, irgendwann mir selbst gegenüber die gleiche Haltung haben zu können, wie sie mir für meinen Umgang mit meinen Mitmenschen wichtig ist. Diesen Anspruch im Alltag umzusetzen gelingt nicht immer. Auch dies ist nur allzu menschlich.

Also, lieber Lothar, lass es Dir von der Uhr, dem Normalsten der Welt, gesagt sein: Du ticst absolut richtig! Sei weiter einfach menschlich! Zeige anderen, wie Überleben kreativ und expressionistisch geht, eben mit Deinem Tourette. Denn die Uhr, die tict schließlich auch, und alle richten sich nach ihr!

Herzlich, Susanne!