Der Schattenboxer

Foto: Ein schönes Portrait-Foto aus der Halbdistanz von meinem Freund Andi in einem blauen T-Shirt.
Andi in einem blauen T-Shirt

Es war ein sonniger Februartag im Jahr 2004. Ein großer Mann mit Bart und Bauch kam mir entgegen, als ich im niedersächsischen Trebel vor dem Gästehaus von Lothar Sandfort saß und versuchte, die ersten noch schwachen Sonnenstrahlen einzufangen. Er kam mit großen Schritten auf mich zu und machte mit seinen Armen ruckartige Bewegungen nach hinten, als ob er mit seinen Armen etwas abschütteln wollte.

Damals habe ich mir nichts dabei gedacht. Ich kannte ihn auch nicht, wusste weder, wer er war, noch von seinem Tourette-Syndrom. Später sollte sich die Bewegung als typisch für Lothar herausstellen.

Als wir mal nebeneinander vor dem Gästehaus saßen, fragte ich ihn mit einem neckischen Grinsen, ob ich jetzt Angst haben müsste, einen Kinnboxer von ihm zu bekommen. Er grinste und meinte, dass er die Bewegung schon so steuern kann, dass nichts passiert. Es sei ihm nur ein- oder zweimal passiert, dass er jemanden erwischt hätte.

Das war meine erste Begegnung mit Lothar und somit auch meine erste Erinnerung an ihn. Es war auch meine erste Begegnung mit einem Menschen mit Tourette-Syndrom. Bis dahin kannte ich dieses Phänomen nur aus Dokumentationen.

Ich kenne Lothar erst, seit er die Medikamente nimmt, und aus Erzählungen von ihm weiß ich, dass die Tics früher viel heftiger waren. Also kenne ich nur ein eher harmlos tickenden Lothar, und ich kann mich an keine Situation erinnern, wo mich seine Ticks gestört, genervt oder sonst was haben. Vielleicht hat es damit zu tun, dass ich als Mensch mit einer zerebralen Bewegungsstörung immer schon mit andersartigen Menschen zu tun hatte und mich diese Menschen immer schon interessierten.

Vielleicht sollte ich noch erwähnen, was uns ins niedersächsische Trebel zog. Es war eine Weiterbildung zum Sexualberater von und für Menschen mit Behinderung, die wir gemeinsam besuchten. Ich weiß noch, es hieß, zwei von den Teilnehmern haben Geburtstag, und einer war Lothar.

Ich dachte mir: Nimm einfach zwei Flaschen Wein mit. Das ist nie verkehrt. Ja, das war ein Fehlgriff. Lothar hätte mit fünf Litern Milch mehr Freude gehabt, als mit dem Wein. Er trinkt nämlich kaum Alkohol. Somit hatte ich meine erste Blamage mit ihm auch hinter mir. Und ganz nach dem Motto: „Es kann nur besser werden“, fand die Flasche Wein auch noch dankbare Abnehmer.

In dieser Zeit ging es zwangläufig um das Thema Sexualität. Ich war damals sehr unsicher, was das Thema anging, und ich bewunderte immer, wie offen Lothar mit seiner Sexualität umgehen konnte. Ich habe da viel von ihm lernen und mitnehmen können für mein Leben.

Foto: Andi mit maigrünem T-Shirt und in dunkler Lederjacke vor einem Ladengeschäft.
Andi vor einem Geschäft

Wie sehe ich Lothars Behinderung? Dazu fällt mir eine Geschichte ein aus einer Zeit, als wir intensiv an dieser Homepage gearbeitet haben, ich hier in Österreich und Lothar in Mainz vor dem Computer. Über Skype und Teamviewer verbunden saßen wir viele Abende zusammen und bastelten an seiner Seite.

Eines kann ich euch hier verraten: Wenn Lothar etwas wichtig ist, dann kann er ziemlich hartnäckig sein und sehr, sehr, sehr pingelig. Und ihr könnt es mir glauben, diese Homepage ist ihm sehr wichtig. Ich sage nur: „Ein Pixel nach oben. Nein, ein Pixel nach unten. Ein Pixel nach rechts. Nein, nach links. Noch einer! Jetzt passt es!“ Uchhh! Manchmal war das sehr anstrengend, aber die Akribie, mit der er seine Homepage gestaltet, finde ich lobenswert. Aber das soll jetzt nicht das Thema sein.

Wir saßen da, es war schon spät, und ich war müde und – wie sagt man auf hochdeutsch? – spitz. Ich hatte halt Lust auf Sex und Lothar hatte seine Vokaltics: „Titten, ficken, pissen, …“ oder so. Darauf sagte ich in meinem Delirium: „Ja, hätte ich jetzt auch Lust zu!“. Lothar musste lachen und wir unterhielten uns darüber, wie es mir mit seinen Tics geht.

Was mich dabei erstaunte, ist folgendes: Diese Wörter sind für einen Spastiker wie mich eigentlich Gift. Jedes Wort bedeutet einen „Zucker“. Ich kenne Spastiker, die würden bei Lothar jedes Mal bis zur Decke hüpfen. Aber mir hat das nie etwas ausgemacht, im Gegenteil: Wenn ich mit Lothar spreche, fällt mir das gar nicht so auf. Es bringt mich nicht mal aus meiner Konzentration. Als ob mein Unterbewusstsein genau weiß, dass es diese Wörter ignorieren kann. Ich finde es schon erstaunlich, wie sich der Mensch anpassen kann.

Inzwischen haben wir nicht mehr so viel Kontakt. Aber ich freue mich immer wieder, wenn wir skypen. Lothar als Schreibmaus ist mein Mäuserich, wenn es darum geht, Texte in ein grammatikalisch und rechtschreibmäßig richtiges Licht zu rücken.

Für mich ist klar, dass die Freundschaft mit Lothar ein ständiger Begleiter in meinem Leben sein wird: einmal intensiver und einmal weniger intensiv. Aber er wird immer eine Rolle spielen.

Vielen lieben Dank dafür, lieber Lothar!

Andi, Lauterach in Österreich, 02.09.2018