Zusammenhänge zwischen meinem Missbrauch und dem Tourette-Syndrom

Einleitung

Dieser persönliche Bericht erzählt die Geschichte meines Tourette-Syndroms, eine Geschichte, die sicher ungewöhnlich ist oder zumindest so klingt. Ich erwarte nicht, dass Du diese Geschichte falsch oder richtig findest, aber ich erwarte, dass Du sie als meine persönliche Geschichte respektierst, auch dann, wenn Du Dich mit den geschilderten Gedanken nicht anfreunden kannst…

Ein großes Anliegen

Seit vielen Jahren (etwa seit 1995) überlege ich immer wieder, ob ich diese Geschichte aufschreiben soll, bzw., wie und wo ich sie auch veröffentlichen kann, weil ich Angst habe, eine Panik in der Szene Tourette betroffener Menschen und ihrer Eltern hier in Deutschland auszulösen. Ich spüre aber auch immer wieder, dass es mir ein großes Anliegen ist, anderen Menschen von meinem Leben und meinem Weg mit Tourette zu erzählen. Andererseits habe ich mir vorgenommen, meine Geschichte behutsam zu schreiben und zu betonen, dass es eben nur meine Geschichte ist und sie nicht auf andere zutreffen muss. Ich merke immer mehr, dass es mir ein sehr starkes Bedürfnis ist, darüber zu sprechen. Vielleicht ändere und aktualisiere ich diesen Text deshalb auch seit vielen Jahren immer wieder (zuletzt im März 2008).

Ein heißes Eisen

Viele Menschen haben in der Zeitschrift „Tourette aktuell“, dem offiziellen Organ der Tourette-Gesellschaft Deutschland e.V., ihre Geschichte bisher erzählt, was mich schließlich ermutigt hat, auch meine Geschichte einzusenden. Leider wurde dort eine Veröffentlichung bisher ohne Angabe von Gründen abgelehnt, was meine Ansicht, dass es sich bei meinem Text um ein heißes Eisen handelt, nur bestärkt hat. Dennoch tue ich hier meine Gedanken kund, denn ich denke, ich kann nur zur Vielfalt aller Menschen mit Tourette-Syndrom beitragen (und das Verständnis für uns fördern), wenn auch ich meine Geschichte erzähle.

Mitten im Leben

Es begann 1990. Damals war ich 22 Jahre alt. Eines Abends dachte ich wieder mal viel über mich nach und suchte nach Erklärungen für mein Sosein und meine Schwierigkeiten im Leben und mit dem TS. Ich malte mir verschiedene Gründe aus und überprüfte sie auf ihre Plausibilität hin. Nach einigen absurden Gedanken kam mir auf einmal die Idee, ich könnte vielleicht sexuell missbraucht worden sein und überprüfte auch diese Idee. Zu meiner Verwunderung stellte sich immer mehr heraus, dass viele verschiedene Gründe und Details nach allem, was ich damals über sexuelle Gewalt wusste, dafür sprachen. Und was anfangs nur ein leiser Verdacht war, bestätigte sich für mich mit der Zeit immer mehr.

Vermutung wird zur Gewissheit

Während ich zu Beginn geglaubt hatte, mein Vater könne so etwas Schlimmes gar nicht mit mir gemacht haben, musste ich mir eingestehen, dass immer mehr Anzeichen dafür sprachen, je länger und intensiver ich nachforschte. Schon wenige Wochen nach meinem ersten Gedanken daran war diese Idee für mich zur traurigen Gewissheit geworden: Mein Vater hatte mich als Kind –vielleicht schon als Baby– vermutlich über viele Jahre hinweg sexuell missbraucht.

Verbindungen

Dann suchte ich nach Verbindungen zwischen der erlebten sexuellen Gewalt und meinem Tourette–Syndrom, und ich fand sie: Ich war nie mit meinem Vater zurechtgekommen, insbesondere seit Beginn meiner Pubertät nicht mehr und er wiederum mit meinem Tourette nicht, welches sich gerade in dieser Zeit besonders verstärkte und zu den komplexen motorischen Tics viele vokale Tics und die Koprolalie hinzu kamen (heute weiß ich, dass er wohl immer dann, wenn ich Tics hatte, unbewusst Angst gehabt haben muss, als Täter entlarvt zu werden; die Art und Weise, aber auch die Heftigkeit meiner Tics –insbesondere meiner Vokaltics– hätten seine Misshandlungen verraten und ihn als Täter damit erkennbar werden lassen können).

Koprolalie und Kopropraxie

Ich hatte seit Jahren eine ausgeprägte Koprolalie, das zwanghafte Äußern sexueller, obszöner Begriffe. Ich hatte schon immer ein extrem aggressives, ausagierendes TS mit lauten (Schmerzens-) Schreien, Selbstverletzung und zerstörerischen Tendenzen. Früher einmal hatte ich sogar eine Form der Kopropraxie, bei der ich meinen Schwanz ständig zwanghaft berühren und reiben musste, sodaß die blauen Jeans vorne am Reißverschluss ganz weiß wurden. Viele meiner einfachen und auch komplexen Tics deuten noch heute darauf hin, dass andere Abstand zu mir halten sollten.

Bedeutungsschwangere Gebärden

Zum Beispiel schlage ich mit meinen Armen immer wieder heftig nach beiden Seiten aus, manchmal sogar gleichzeitig. Für mich bedeutete das: Bleib mir vom Leib, halte Abstand und komm mir ja nicht zu nahe. Aber auch das starke Grimassieren und Fratzenschneiden sollte anderen sagen: Ich mag Dich nicht. Geh weg, sonst greife ich Dich an! Mein häufiges Mundaufreißen sagt Dir quasi heute noch: Nimm Dich in Acht, sonst fresse ich Dich auf! Insgesamt wirkte ich durch mein oft ungefiltertes wildes Auftreten sehr unattraktiv und abschreckend. All diese Details sprachen dafür, dass mein extrem ausgeprägtes Tourette-Syndrom mit seinen sehr auffälligen, bedeutungsschwangeren Gebärden etwas mit meinem sexuellen Missbrauch zu tun haben musste.

Bedingungen für die Entstehung von Tourette

Einmal hatte ich von einem Arzt gehört, dass die Ursachen für meine Erkrankung in dem Zusammentreffen einer starken psychischen mit einer sehr physisch geprägten Lebenserfahrung lägen. Dass sexueller Missbrauch nicht nur eine Form körperlicher Vergewaltigung und Grenzverletzung darstellt, sondern auch eine seelische und emotionale Verletzung massivster Art bedeutet, ist heute allgemein bekannt. Ein Zusammenspiel dieser beiden Komponenten in Form von sexueller Gewalt als eine mögliche Ursache für die Entwicklung meines Tourette-Syndroms war also gegeben. Eine weitere mögliche Ursache sehe ich in der genetischen Disposition, der Anlage, die ich vermutlich von meinem Vater selbst geerbt habe und die zu ihrer heftigen, symptomatischen Ausprägung dann nur noch einen entsprechenden Auslöser brauchte.

Gründe

Später machte ich mir Gedanken über die Gründe meines Vaters, warum er mich sexuell missbraucht haben könnte. Heute glaube ich, dass es für ihn eine unbewusste Möglichkeit war, eigene Gewalterfahrungen zu verdrängen und selbst an Macht und Selbstbewusstsein zu gewinnen, indem er den an sich selbst erlebten Missbrauch (oder eine andere Form von Gewalt) neu inszenierte, diesmal allerdings in der Position des Mächtigen. Häufig werden Erfahrungen von (sexueller) Gewalt so von einer Generation zur nächsten weitergegeben.

Mein Vater hatte auch Tics

Im Übrigen hatte auch mein Vater verschiedene nervöse Tics und zum Teil auch zwanghafte Rituale, die meines Erachtens dafür sprechen, dass er selbst unter Umständen auch traumatisiert worden ist und diese Erfahrung dann an mich weiter gegeben hat. So hatte er besonders dann, wenn er getrunken hatte, starke Blinzeltics mit beiden Augen. Wenn er Klavier spielte, so bewegte er oft seinen Mund nervös dazu, so als wolle er stille Gesänge anstimmen. Insgesamt wirkte er häufig nervös und war oft von einer gewissen Unruhe getrieben. Sein starker Alkoholismus bereits als junger Vater spricht ebenfalls dafür, dass er eigene leidvolle Erfahrungen lieber ertränken als aufarbeiten wollte. Seine eigenen Tics lassen mich vermuten, dass ich meine genetische Anlage für das TS von ihm geerbt haben könnte, denn Ticstörungen und Zwangserkrankungen treten in Familien mit bereits betroffenen Familienmitgliedern besonders gehäuft auf.

Tourette als Rettung

Heute glaube ich, dass mein Körper und meine Seele so genial waren, auf meine kindliche Notlage mit der langsamen, aber stetigen Entfaltung eines ausgeprägten TS zu reagieren, um mich vor dem totalen körperlichen und seelischen Zusammenbruch zu bewahren. Unter dem Deckmantel einer verrückten Krankheit konnte ich unbehelligt toben, brüllen und schreien, konnte schimpfen, fluchen und Obszönitäten von mir geben, die teilweise dazu dienten, auf meine Art und Weise zu benennen, was mir passiert war und wie ich mich fühlte. Ich konnte meinen extrem aufgestauten Emotionen freien Lauf lassen, ohne dass jemand auf den Gedanken kommen musste, dass ich eine ausgeprägte Leidensgeschichte hinter mir hatte, für die auch noch mein Vater verantwortlich war. Ich machte zwar auf mich aufmerksam, aber gleichzeitig lenkte ich auch von meinem Vater ab, um ihn und die "heile Welt" der Familie nicht zu gefährden.

Tics anstelle von Gefühlen

Meine motorischen Tics halfen mir, alle lästigen Leute von mir fernzuhalten, insofern übernahm das TS (das ich mit fünf, sechs Jahren bekam) auch die Funktion des Schutzes vor weiteren Übergriffen durch meinen Vater oder andere Täter*innen: Ich war als Kind einfach unattraktiv für Ältere. Gleichzeitig konnte ich mich so wehren und meinen ambivalenten Gefühlen meinem Vater gegenüber freien Lauf lassen, ohne dass ich meinen Missbrauch als Kind oder später als Jugendlicher direkt hätte benennen müssen oder können – ich wurde emotional wieder stabiler. All dies lief viele Jahre lediglich in meinem Unterbewusstsein ab: Ich konnte mir mein Verhalten bis dahin nicht erklären.

Der Missbrauch hat das Tourette verstärkt

Ich bin sicher, dass ich ohne die Erfahrung des sexuellen Missbrauchs das Tourette-Syndrom nicht so stark, nicht in dieser extrem aggressiven und autoaggressiven Form bekommen hätte. Mittlerweile bin ich davon überzeugt, dass es außer mir noch andere Menschen gibt, deren Tourette vielleicht unter anderem deswegen vorhanden oder so stark ausgeprägt ist, weil sie in ihrer Kindheit ein ähnliches oder anderes Trauma erfahren haben.

Typisch Jungs

Auch die Tatsache, dass weit mehr Jungen ein Tourette–Syndrom entwickeln als Mädchen, spricht für mich dafür, dass sexuelle Gewalterfahrungen ein Grund sein können, weshalb das Tourette sich bei einigen Betroffenen so aggressiv entwickelt (vielleicht auch verbunden mit Ängsten, Depressionen, Koprolalie, Kopropraxie, Zwangsmerkmalen, aggressiven Ausbrüchen, Aufmerksamkeitsstörungen oder anderem mehr). All diese Merkmale sind ebenso unter den Folgen sexuellen Missbrauchs zu finden.

Meiner Meinung nach werden aggressive Verhaltensweisen bei Jungen eher toleriert, als bei Mädchen. Mädchen dürfen (nach außen) nicht aggressiv sein. Deshalb können Jungen viel eher als Mädchen die Möglichkeit entwickeln, selbst aggressiv auf das zu reagieren, was ihnen (als Kind) passiert, zum Beispiel in Form eines ausgeprägten Tourette-Syndroms.

Mir ist klar, dass das nicht für alle Jungen gilt, und nicht alle Jungen, die sexuell missbraucht werden, entwickeln ein TS. Außerdem gibt es auch Mädchen oder Frauen mit starkem TS. Aber bei denjenigen, die vielleicht ein sehr aggressives TS entwickeln oder entwickelt haben, sollte meiner Meinung nach sexuelle Gewalt als eine mögliche Ursache in Betracht gezogen werden.

Männlichkeit zurückerobern

Ein weiterer interessanter Aspekt ist folgender: Durch den sexuellen Missbrauch meines heterosexuellen Vaters an mir, hat er mir im Grunde die Rolle seiner Partnerin (meiner Mutter), also eine Frauenrolle, zugewiesen. Entsprechend hat er mich anal und oral penetriert, da ich keine Vagina hatte. Seither passen für mich auch die klassischen Rollenbilder, die Jungen und Mädchen schon früh zugewiesen werden, nicht mehr zu mir als Mann. Ich habe mich als Jugendlicher Mädchen oft viel näher gefühlt und konnte mit Jungen (-freundschaften) nur wenig anfangen. Auch meine eigene Identität als Junge, als heranwachsender Mann, ging dabei weitgehend verloren.
Vielleicht hat sich mein TS auch deswegen so stark und aggressiv entwickelt, weil Stärke und Aggressivität in unserer heutigen Gesellschaft immer noch als männliche Werte gelten. Besonders das lautstarke Brüllen, Fluchen und Benutzen von Obszönitäten gilt als Domäne der Männer. Möglicherweise habe ich so versucht, mir meine verloren gegangene Männlichkeit zurückzuerobern und als männlich geltende Eigenschaften wiederzuerlangen. Ich wollte die verlorene Identität, die körperlich immer noch präsent war, zurückgewinnen.

Die Frage nach der Bedeutung

Grundsätzlich muss gefragt werden, ob Tourette eine Krankheit ist, die sich entweder spontan, oder aufgrund einer genetischen Disposition entwickelt, oder aber, ob es noch andere, bzw. ergänzende Möglichkeiten gibt, wie ein TS entstehen kann. Ich bin heute der Ansicht, dass Krankheiten oder Behinderungen unter anderem ein Spiegel der Seele sind und nicht nur medizinisch begründet werden können. Sie machen Sinn, haben eine Bedeutung, und wenn es mir gelingt, zu verstehen, dass meine Behinderung einen Sinn hat und welchen, dann ist es für mich viel leichter, die körperlichen und sozialen Einschränkungen, die sich für mich daraus ergeben, zu respektieren und anzunehmen.

Dankbarkeit anstatt Wut

Früher habe ich gedacht, ich muss mich mit dieser chronischen Erkrankung ein Leben lang herum schlagen, weil mein Vater seine Finger nicht von mir lassen konnte. Heute nehme ich einen ganz anderen Standpunkt ein: Ich bin froh, dass mein Körper, meine Seele und mein Geist, sprich: meine gesamte Persönlichkeit so klug, erfindungsreich und kreativ waren, mein Tourette-Syndrom als ein formvollendetes Überlebenskunstwerk zu schaffen, mit dem ich immer in der Lage sein werde, zu (über-) leben.

Medikamente lindern die Symptomatik

Seit ich mit 25 Jahren begonnen habe, Medikamente zu nehmen, um die Symptome des TS zu unterdrücken, habe ich heute vielleicht noch ca. 15 bis 20 % meiner Tics bezüglich Häufigkeit und Intensität. Das Spektrum an möglichen auftretenden Tics und komplexen Ritualen hat sich auch ein wenig verringert. Dennoch können verschiedene Tics und Rituale bis heute –wenn auch nur sehr vereinzelt– sehr heftig auftreten. Und wenn ich meine Medikamente wieder absetzen würde, kämen die Symptome des TS nach wenigen Wochen in gleicher Weise und Intensität zurück, dessen bin ich mir sicher.

Mindestdosis notwendig

Dafür spricht eine Phase, in der ich damals einmal unter meine heutige Mindestdosis gegangen bin. Die Konsequenz war, dass die Tics wieder so stark waren, wie zu Beginn der Medikation; allerdings reichte es damals nicht aus, die Dosis wieder um die entsprechenden Milligramm zu erhöhen, was eigentlich zu erwarten gewesen wäre, sondern ich musste die Medikamente wieder in Höhe der Ausgangsdosis einnehmen, um den gleichen Erfolg an Unterdrückung der Symptomatik zu erzielen. Erst danach konnte ich erneut beginnen, die Dosis wieder langsam und vorsichtig herabzusetzen bis zu dem Mindestlevel, den ich bis heute einhalte und den ich bisher nicht noch ein weiteres Mal unterschritten habe.

Unbändige Energie

Außerdem hat sich gezeigt, dass ich in seelisch extrem belastenden Situationen durchaus immer noch sehr heftige Tics und Zwänge entwickeln kann, die denen von früher in nichts nachstehen. Wenn es so ist, dass mein TS die kreative Aufgabe übernommen hat, meinen Gefühlen kanalisierte Ausdrucksmöglichkeiten zu verschaffen, dann liegt der Gedanke nahe, dass das Tourette heute weitgehend überflüssig sein müsste, denn viele Gefühle spüre ich sehr zeitnah in meinem Körper und teilweise kann ich ihnen auch auf natürliche, ursprüngliche Weise Ausdruck verleihen. Dies trifft jedoch nur zum Teil zu. Seit vielen Jahren habe ich –unter anderem immer wieder in therapeutischen Sitzungen– gespürt, dass ich nach wie vor eine unbändige aggressive Kraft und Energie in mir habe und sehr große Angst habe, dass diese Energie einmal entfesselt werden könnte.

Totale Zerstörungswut

Seit Jahren phantasiere ich Szenarien, in denen ich einmal völlig ausrasten könnte, ohne dass ich oder andere Menschen dabei Schaden nehmen. Ich phantasiere, wie ich nackt und schwitzend durch einen Raum laufe, dabei auf Sachen und Gegenstände einschlage, sie mutwillig zerstöre und mich dabei völlig gehen lasse, völlig die Kontrolle über mich verliere. Laut brüllend, tobend, fluchend und schreiend zerstöre ich alles um mich herum, während ich aus tausend Scherben und Bruchstücken zehntausend noch kleinere mache. Irgendwann bleibe ich völlig erschöpft und verausgabt, aber auch tief befriedigt am Boden liegen und atme nur noch. Ich bin nur noch mein Atem...

Die Tics schützen mich auch heute noch

Sosehr mich diese Vision beglückt, so sehr ängstigt sie mich auch. Ich habe vor nichts so sehr Angst, wie davor, die Kontrolle zu verlieren. Auch wenn ich heute Gefühle besser und schneller wahrnehme als früher, so habe ich immer noch große Probleme, sie adäquat und direkt auszudrücken. Insbesondere schwere Gefühle wie Traurigkeit, Angst, Ärger, Wut und Hass kann ich kaum und nur sehr selten zeigen. Oft beneide ich Freunde um deren ungehemmte Tränen oder Wutausbrüche. Diese Gefühle machen mir große Angst. Und da hat mein Tourette für mich wieder eine wunderbare Funktion eingenommen: Es schützt mich auch heute wieder vor "zu vielen" Gefühlen, vor Gefühlen, die mich in ihrer Heftigkeit und Gesamtheit davonschwemmen könnten, die ich nicht verkraften, nicht ertragen könnte.

Tourette ein nutzloses Relikt?

Bis heute, wo ich so vieles von mir und über mich weiß, wo ich in so vielen Punkten Klarheit bekommen habe, mich entwickelt und weiter entwickelt habe, glaubte ich lange Zeit, das Tourette-Syndrom sei mittlerweile nur noch ein Überbleibsel, ein Relikt aus alten Tagen, in denen es mir half, bestimmte Gefühle zu leiten und zu lenken, zu kanalisieren und zu codieren, auf codierte, veränderte und harmlosere Weise zu äußern, als das sonst geschehen wäre. Damit waren ich und es unheimlich kreativ, haben lange Zeit lebensbedrohliche Situationen gemeistert und überlebt. Diese Situationen gibt es in dieser Form schon lange nicht mehr. Ich habe immer gedacht, das Tourette sei aufgrund der Tatsache, dass es sich hierbei um eine chronische Erkrankung handelt, die sich mit der Seele und dem Körper, in dem sie wohnt, mit der Zeit immer mehr verbindet, unauslöschlich und unveränderbar mit meinem Leben verknüpft, und ich mit ihm.

Tourette als Schutz

Und heute? Mittlerweile weiß ich, dass dieses Tourette-Syndrom mich auch heute noch schützt, und zwar vor Gefühlen, die ich nicht verkraften, nicht ertragen könnte, wenn sie sich ungefiltert und in voller Breite zeigen würden. Diese Gefühle sind so unglaublich heftig, so immens und so zerstörerisch, dass ich bis heute nicht weiß, wie ich mit ihnen umgehen sollte, wenn sie zutage träten. Diese Gefühle, die vielleicht archetypische Bausteine meiner verletzten Seele sind und vielleicht auch bis heute noch archetypische Intensität erreichen, sind für mich so bedrohlich und unbeherrschbar, dass mein Tourette die Aufgabe übernommen hat, mich vor ihnen und ihren Folgen zu schützen.

Angestaute Gefühle und Tourette halten sich die Waage

Und noch ein Aspekt in meinem Gefühlsleben ist interessant: Wenn es so ist, dass diese emotionale Urgewalt in mir existiert und ich schwere Gefühle noch heute schlecht oder kaum ausdrücken kann, dann könnte man vermuten, dass mein Gefühlsstau im Laufe meines Lebens und mit zunehmenden Lebenserfahrungen immer größer werden müsste und das Tourette damit immer heftiger. Dem ist jedoch nicht so. Dafür gibt es wahrscheinlich zwei Erklärungen: Zum einen lerne ich zunehmend besser, mit schweren und schwierigen Gefühlen umzugehen, sodass der Stau an negativen Gefühlen nicht oder nicht so stark zunimmt, sondern eher gleich bleibt, zum anderen ist es eine Eigenart des Tourette-Syndroms, mit zunehmendem Lebensalter leicht an Intensität zu verlieren. Das könnte bedeuten, dass sich ein steigendes Stressmoment durch sich anstauende Gefühle und ein sich leicht und langsam abschwächendes Tourette über die Jahre hinweg ziemlich die Waage halten. Das wäre für mich vor allem dafür eine Erklärung, dass ich das Gefühl habe, das Tourette wird in seiner Symptomatik seit Jahren nicht wirklich schwächer.

Woher kommt das Zucken?

Vor kurzem ist noch eine weitere, interessante Überlegung aufgetaucht, die für mich einen ziemlich direkten Zusammenhang zwischen meinen Missbrauchserfahrungen und dem Tourette-Syndrom erkennen lässt:
Ich habe mich einmal gefragt, was ich bei meinen Tics eigentlich tue, und mir ist aufgefallen, dass ich zucke: Mit dem Kopf, mit den Schultern, mit der Stimme und anderem mehr. Wenn ich mir nun überlege, in welchen Kontexten das Wort "zucken" in der deutschen Sprache vorkommt, dann fallen mir sofort zwei Beispiele ein: "Zusammenzucken" und "mit den Schultern zucken". Der zweite Begriff bedeutet soviel wie Ahnungslosigkeit und Hilflosigkeit. Beides war für mich als kleines Kind bei den Übergriffen meines Vaters gegeben. Das Zusammenzucken hat für mich jedoch noch eine ganz besondere Bedeutung.

Symbol für den Schrecken

Zum einen frage ich mich, wann man zusammenzuckt und ich stelle fest: Menschen zucken zusammen, wenn sie sich erschrecken. Je größer der Schrecken, desto heftiger die Zuckung. Wenn ich davon ausgehe, dass die Übergriffe meines Vater mich nicht nur erschreckt haben, sondern die gesamte Zeitspanne des Missbrauchs für mich einen immensen Schrecken besaß, zumal sich die Handlungen oft nachts abspielten und wiederholten und ich keinerlei Hilfe bekam, dann kann ich annehmen, dass sich dieser körperliche und seelische Schrecken auch in einer Störung wieder finden lässt, die diesen Schrecken authentisch und glaubhaft symbolisiert. Heute denke ich, dass dies mithilfe meines Tourette-Syndroms geschehen ist.

Vertraute Gefühle nachgestellt

Erstaunlicherweise habe ich als Jugendlicher auch damit begonnen, komplexe Tics zu entwickeln, die genau dieses Erschrecken wieder aufleben lassen, indem ich immer wieder meinen Kopf plötzlich und ruckartig umgedreht habe, so als wolle ich schauen, ob mich jemand verfolgt oder jemand hinter mir steht, zusammen mit einem Größerwerden meiner Pupillen, Hochziehen der Augenbrauen, Aufreißen des Mundes, Zittern der Hände und einem kurzen, schnellen aber tiefen und lauten Einatmen, das quasi sagen will: "Oh, Gott, was passiert da mit mir?" Diesen komplexen Tic habe ich häufig gehabt und oft ganz bewusst herbeigeführt. Ich wollte mich künstlich erschrecken. Ich glaube, deutlicher konnte ich nicht auf die Gefühle hinweisen, die ich zu Beginn der Übergriffe empfunden habe.

Weitere Verbindungen

Und noch etwas ist sehr interessant: Aus Träumen, Selbstbeobachtung und meiner therapeutischen Arbeit heraus weiß ich, dass ich mich immer ganz starr und steif mache, wenn ich große Angst habe. So habe ich zum Beispiel beobachten können, dass ich mich als Jugendlicher immer ganz still und klein unter der Bettdecke gemacht habe, wenn ich meinen Vater nachts die Treppe heraufkommen gehört habe. Ich war mucksmäuschenstill, habe mich nicht mehr bewegt, den Atem angehalten und gewartet, bis er in seinem Zimmer verschwunden war. Ich habe versucht, mich so zu verhalten, dass er auf keinen Fall bemerken konnte, dass ich noch wach war.

Starr und steif machen

Ich glaube, dass ich dieses Verhalten bereits als kleines missbrauchtes Kind entwickelt habe, das wieder und wieder Angst vor dem nächsten nächtlichen Übergriff haben musste. Denn Wachsein bedeutet in der Regel auch die Gefahr eines Übergriffs. Täter lassen schlafende Kinder eher in Ruhe. Und auch Tiere gehen oft instinktiv in die Totenstarre, wenn sie sich bedroht fühlen, damit sie niemand anhand ihrer Bewegungen bemerken kann. Diese Starre und Steifheit des Körpers ist als Folge und Reaktion unter Überlebenden von sexueller Gewalt sehr bekannt. Es ist ein typisches Reaktionsmuster von Opfern von sexuellem Missbrauch. Sie versuchen so, ihre Körpergefühle aus dem Körper zu drängen, sie nicht länger spüren zu müssen, vor allem während der konkreten Missbrauchshandlungen.

Luft anhalten

Das Anhalten des Atems, während mein Vater nachts an meiner Zimmertür vorüber ging, wiederholt sich im Grunde bis heute bei jedem einzelnen Tic, jedem Symbol des (Er-) Schreckens. Wenn ich ticke, halte ich immer die Luft an, die Atmung wird unterbrochen, bis heute ist das so. In meinen Augen stellt dies noch eine weitere Verbindung zwischen dem Erlebten und dessen symbolischer Benennung, meinem Tourette-Syndrom, dar.

Die Hoffnung stirbt zuletzt

Die Idee, dass mein Tourette nicht nur früher sondern auch heute noch eine ganz, ganz wichtige und unheimlich kreative Aufgabe in meinem Leben übernommen hat, macht mich nicht nur glücklich und zufrieden, sie gibt mir auch die Zuversicht, dass mein Körper, meine Seele und mein Geist auch weiterhin auf geniale Art und Weise für mich sorgen werden. Und wer weiß? Vielleicht wird es mir dadurch eines Tages auch möglich sein, an die verborgenen und tief vergrabenen Gefühlsschätze meiner Seele heran zu kommen...


Lothar Schwalm, Mainz, 28.03.2008