Mein Bludelhelz
Lieber Lothar!
Du hattest mich gebeten aufzuschreiben, wie ich Deine Tourette-Erkrankung erlebt habe. Ich tue dies jetzt in der klassischen Briefform, da es für mich einfacher ist. Ich hoffe, das ist für dich okay und Du hast die Zeit, es mal in den Rechner zu tippen.
Ich gehe mit meinen Ausführungen chronologisch vor und erhebe keinen Anspruch auf Vollständigkeit, auch wenn ich denke, dass ich die wesentlichen Aspekte auflisten werde. Ich erhebe auch keinen Anspruch auf „Richtigkeit“, sondern schildere die Dinge subjektiv aus der Erinnerung.
An die ersten Tics erinnere ich mich, als wir in Afghanistan waren, ich war 3 oder 4, und wir wussten nichts darüber, außer dass es Abweichungen zu anderen Kindern gab. Ich glaube, von uns Vieren wusste auch keiner so genau, wie damit umzugehen ist... ignorieren, drauf ansprechen, lachen oder nicht?
Aus dieser Unsicherheit heraus sagte ich mal im Schulbus einen Satz, den ich heute immer wieder mal im Ohr habe: „Lothar mit seinen super duper Angewohnheiten!“ Ich konnte überhaupt nicht einordnen, was daran falsch war, als ich dann mittags zu Hause dafür einen Rüffel von Mutti bekam.
Zumindest von da an war klar, dass es irgendetwas war, dass einen sensiblen Umgang erforderte. Für mich war es im weiteren Verlauf immer schwierig, sich „richtig“ zu verhalten. Insbesondere, wenn wir mit anderen etwas zusammen gemacht haben. Ich denke dabei an das Fußballspielen in den Ferien mit verschiedenen Kumpels, usw., die ja zunächst meine Freunde waren und Du dann dazu gekommen bist, ebenso im Training später.
Ich habe immer wieder überlegt, ob ich Dich verteidigen soll / muss oder ich mich auch abgrenzen darf. Das war besonders dann schwierig, wenn ich Dinge anders gesehen habe als Du, die dann aber (von Dir teilweise sehr provokant) diskutiert wurden. Als Strategie habe ich mich daher häufig neutral und unauffällig verhalten. In Situationen, in denen Dich die Leute länger kannten, habe ich das nie so empfunden (oder nur selten); z.B. bei unserem Nachbarn.
Ich weiß nicht, ob ich das richtig wiedergebe, aber Du kamst mal von einer Therapeutin oder Therapeuten mit der Anweisung, das zu tun und zu sagen, wonach Dir ist, ohne Kompromisse. Das war die Zeit, die ich für sehr schwierig hielt und empfunden habe, weil Du in gewisser Weise unantastbar warst und das auch provokant umgesetzt hast.
Du hast Dir zum Beispiel nach dem Duschen beim Training häufig aufreizend viel Zeit gelassen und wolltest dann mit mir nach Hause fahren (mit dem Auto). Hätte ich das durchgesetzt, wonach mir damals war, wärst Du mit der Straßenbahn nach Hause gefahren, nämlich so oft, bis Du Dich untergeordnet hättest. In Erwartung, dass Mutti mich anzählt, wenn ich das mache, habe ich es gelassen, war aber in der gesamten Zeit überhaupt nicht gut auf Dich zu sprechen. Es hatte manchmal den Anschein, als ob Du das Tourette bewusst instrumentalisierst.
Als die Zeit vorbei war, stand eher der Umgang mit den Tics im Vordergrund. Ich hatte immer Verständnis für Dich und Deine Situation, aber offensichtlich gab es wenig Verständnis, wenn man mal genervt war oder sich einfach aufgrund der Lautstärke erschreckte oder mal einen Kommentar gegeben hat.
Man hat sich mit der Zeit an das meiste gewöhnt, aber die Lautstärke habe ich häufig als sehr anstrengend empfunden und hat mich wahrscheinlich sehr empfindlich werden lassen. Darüber hinaus war es für mich schwierig zu ertragen, wenn Du in den Tics obszöne Begriffe gerufen hast (aber nur, wenn wir unter Freunden waren, bzw. meine Freundin da war... aber die hat ja dann auch mit großem Verständnis reagiert und zu Dir ein gutes Verhältnis entwickelt, ebenso wie meine jetzige Frau).
Auch wenn es der „Alte“ nie geschafft hat, Dir gegenüber verständnisvoll aufzutreten, konnte ich ihn so manches Mal verstehen – gerade wenn es um die Lautstärke ging, die manchmal zu spontan auftrat. Ansonsten hat mich sehr genervt, dass ich, als Mutti ausgezogen und Du wieder zuhause eingezogen warst, ständig zwischen den Stühlen stand und als Jüngster in der Familie zwischen dem Alten und Dir vermitteln musste und mir von beiden das Leid anhören musste – so viel zum Alten!
Manchmal war es schwierig, abends aufgrund der Tics einzuschlafen. Ich erinnere mich an eine Phase, in der Du häufig „ja“ gerufen hast... ab und zu habe ich daraus im Bett liegend ein Spiel gemacht: Vorher die Anzahl geschätzt und mitgezählt...: plus / minus 5 war okay ;-)! Ich habe mich auch mal dabei ertappt, wie ich die Situation für mich nutzen kann und hatte überlegt, es als Ausrede nutzen zu können, wenn ich mal eine Klassenarbeit verhaue … wenig Schlaf → mangelnde Konzentration, etc., habe ich aber nie getan.
Ich erinnere mich noch an Situationen, in denen wir im Auto durch die Stadt gefahren sind und andere Verkehrsteilnehmer geglotzt oder / und gelacht haben. Das hat mich ziemlich wütend gemacht und in mir das Gefühl geweckt, Dich verteidigen zu müssen, was ich zumindest über ernste und böse Blicke versucht habe.
Obwohl ich weiß, dass es Blödsinn ist, fühle ich mich heute manchmal noch unwohl, weil ich Reaktionen von Leuten, die Dich noch nicht kennen, nicht einschätzen kann. Das ging mir so, bevor Du die Familie meiner Frau kennengelernt hast und geht mir zum Beispiel so, wenn Du eine neue Freundin zum Beispiel von meinem Schwager kennenlernst.
Ansonsten gibt es für mich keine besonderen Auffälligkeiten mehr, was vielleicht auch an der räumlichen Distanz und den Situationen liegt, in denen wir mittlerweile aufeinandertreffen. Wir sehen uns ja praktisch nur noch im Kreise der Familie.
Mir fällt momentan nichts mehr ein, außer Dir zu sagen, dass ich mit dem Erwähnten meinen Frieden gemacht habe (klingt schlimmer, als es ist!!!) und die Dinge so akzeptiere, wie sie sind – es ist alles in Ordnung!
Ich bin froh und glücklich, Dich zum Bruder zu haben!!!
Lieben Gruß, Dein Brasahat