...immer ein offenes Ohr...

Mai, 2013

Lieber Lothar,

ich schreibe Dir heute diesen Brief, weil Du mich darum gebeten hast. Ich will versuchen, in diesen Zeilen ein bisschen zu beschreiben, wie ich Dich mit deinem Tourette-Syndrom als Mutter erlebt habe und wie es mir manchmal damit ging, in guten wie in schlechten Tagen.

Sicherlich weicht mein Erleben dabei stark von Deinem eigenen ab und ich kann sicher nur aus der Sicht einer Mutter schreiben, die selbst kein Tourette hat, aber eben alle Facetten dieser Erkrankung hautnah miterlebt hat.

So waren viele Reaktionen unseres Umfeldes oft nicht leicht zu verkraften. Durch die stark sicht- und hörbaren Tics waren beispielsweise befremdliche Blicke von Außenstehenden an der Tagesordnung. Einmal meinte eine Nachbarin zu mir, Du seiest in Deinem früheren Leben sicher ein Hund gewesen. Ziemlich schockierend für mich war auch eines Tages der Besuch der Polizei an der Haustür, die einem Hinweis besorgter Nachbarn mit Verdacht auf Misshandlung nachging.

Am schwersten war es jedoch, die eigene Ohnmacht zu ertragen, das heißt, dein psychisches und teilweise auch körperliches Leiden bis zur totalen Erschöpfung mit ansehen zu müssen, ohne Dir helfen zu können. Als du dich schließlich überwunden hattest, Medikamente zu nehmen, war es schwer, die Veränderungen zu akzeptieren, die die Einnahme bewirkte.

Zum einen trat an die Stelle deiner bisherigen großen Lebendigkeit eine unglaubliche Müdigkeit, die dich anfangs bis zu 20 Stunden am Tag schlafen ließ. Zum anderen warst du in deinem Denken und Handeln nicht mehr so flexibel und so eingeschränkt, dass ich dich zeitweise wie intellektuell gelähmt erlebt habe. Das ging so weit, dass ich befürchtete, du wärst nicht mehr imstande, dein Studium zu beenden.

Zum heutigen Zeitpunkt empfinde ich große Achtung und Bewunderung für dich: Du hast dein Studium mit einem sehr guten Ergebnis abgeschlossen. Inzwischen meisterst du deinen Alltag allein. Ich finde es erstaunlich, wie du dich immer wieder mit deiner Behinderung auseinandersetzt und sie akzeptierst und mit den Einschränkungen in deinem Leben umgehst.

Trotz vieler Rückschläge in deinen Beziehungen und längeren Phasen ohne feste Partnerschaft hast du deinen Humor und deine positive Einstellung zum Leben nicht verloren. Ich freue mich sehr darüber, dass du nicht egoistisch geworden bist, sondern sogar immer ein offenes Ohr für andere hast und bemerkenswert hilfsbereit bist.

Ich bin stolz auf dich!

Deine Ma