Tourette - ein Resümee

Es ist sicher nicht leicht, aus dieser Vielzahl von Informationen, Fakten und Lebensumständen, die ich auf den vorigen Seiten beschrieben habe, ein klares, ein eindeutiges Resümee zu ziehen. Es fällt mir auch deshalb schwer, weil ich in Gesprächen mit anderen Tourette-Betroffenen und Eltern eben auch immer wieder deren Angst spüre, ich könnte meine Ansicht, dass der Missbrauch etwas mit dem Tourette zu tun hat, generalisieren und verallgemeinern. Das tue ich nicht. Ich betone immer wieder, dass es meine Geschichte ist, und diese war eben so, wie ich sie hier beschreibe. Im Hinblick auf andere Menschen, die ebenfalls an Tics leiden oder gar eine komplexe Ticstörung wie das Tourette-Syndrom entwickelt haben, kann man sicherlich nicht sagen, dass sie alle ebenfalls sexuelle Übergriffe in der Kindheit erlebt haben oder früher einmal traumatisiert wurden. Genauso wenig entwickeln alle Menschen, die sexuelle Übergriffe erleben, eine Ticstörung. Menschen leben sehr unterschiedlich und sie wachsen auch sehr unterschiedlich auf; jede und jeder hat eine ganz persönliche, individuelle Sozialisation.

Foto: Dieses Bild zeigt mich mit etwa 5 Jahren in einem rot-gelb-braun-weißen Ringelpulli.
Ich mit vier oder fünf Jahren

Und diese ist eigentlich immer so komplex und mannigfaltig, dass Behinderungen, Erkrankungen, Störungen, etc. nur selten auf einzelne, konkrete Ursachen zurückgeführt werden können. Eigentlich ist es immer ein komplexes Zusammenspiel von emotionalen, körperlichen und seelischen Einflüssen, das für weitreichende Veränderungen im Leben eines Menschen verantwortlich ist.

Unglaubliche Übereinstimmung

Und so ist es sicherlich auch bei mir: Vieles spricht dafür, dass die Entwicklung meines extrem aggressiven Tourette-Syndroms sehr direkt mit der erlebten sexuellen Gewalt zu tun hat, aber nicht ausschließlich, sondern es kamen weitere Faktoren hinzu, wie zum Beispiel die plötzliche und einschneidende Trennung von meinem Urlaubsort und meinem ersten Freund im Alter von 5 Jahren. In drei aufeinander aufbauenden psycho-kinesiologischen Sitzungen bei einem Heilpraktiker habe ich im Herbst 2008 herausgefunden, dass mein direkter körperlicher Missbrauch mit 3, mit 5 und mit 10 Jahren stattgefunden hat. Und erstaunlicherweise erzählt mir meine Mutter im Zusammenhang mit ihren Erinnerungen vor einer Woche zum ersten Mal in meinem Leben, dass ich bereits im Alter von 3 Jahren für einen kurzen Zeitraum erste Blinzeltics hatte. Danach zeigten sich Blinzel- und andere Tics erst wieder mit 5 Jahren. In den letzten zwei Jahren in Afghanistan bleiben meine Tics mehr oder weniger konstant.

Weitere Gründe für die Entwicklung des Tourette

Foto: Ich werfe den Kopf in den Nacken, kneife die Augen zusammen und reiße den Mund weit auf.
Ein extrem lauter Schrei

Als ich 10 Jahre alt bin, fliege ich mit meinem Bruder in den Sommerferien alleine zurück nach Deutschland, um dann mit ihm und meinem Vater für einige Wochen alleine zuerst bei seiner Familie in Homberg, und danach dann in unserem Haus in Kassel zu wohnen. In dieser Zeit muss der letzte sexuelle Übergriff stattgefunden haben. Kurz vor Weihnachten kommt meine Mutter dann ebenfalls zurück. Mit 11 Jahren, also ein halbes Jahr nach unserer Rückkehr aus Afghanistan, verstärken sich dann die Tics, als wir wieder in Deutschland Fuß fassen und ich mich hier neu einleben muss. All das sind für mich schon sehr konkrete Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen den Phasen der Übergriffe und auftretenden Tics als Folge.

Aber auch die elterliche Zurückhaltung beim Ausdrücken und Ausleben von Gefühlen in meiner Familie, ihre Tendenz, meinen negativen Gefühlen weniger Raum zu geben als den positiven, haben sicher auch dazu beigetragen, dass sich meine Gefühle und meine Verwirrung einen anderen Weg als Traurigkeit und Rückzug gesucht haben. Ich denke oft, dass ich durch die sexuellen Übergiffe meines Vaters im wahrsten Sinne des Wortes ver-rückt wurde (siehe auch den Text "Mein zweiter Geburtstag"). Das passt für mich auch besonders gut zu der Etikettierung des Tourette-Syndroms als eine verrückte Krankheit.

Traumata als möglicher Hintergrund

Ich kann immer wieder nur betonen, dass dies meine eigene persönliche Geschichte ist und sie für andere nicht zutreffen muss. Dennoch wünsche ich mir natürlich, dass im Zusammenhang mit der Forschung nach Ursachen des Tourette-Syndroms oder einer Ticstörung eben auch traumatische Lebenserfahrungen im Leben der betroffenen Menschen nicht ausgeschlossen werden. Dabei muss es sich nicht zwangsläufig um sexuellen Missbrauch handeln; es gibt viele Ursachen für körperliche und / oder seelische Traumata. Mein Leben hat mir gezeigt, dass (mehrere) traumatische Erfahrungen über Jahre hinweg durchaus in die Entstehung einer Ticstörung münden und dafür sorgen können, dass diese Behinderung eben extrem auto- und fremdaggressiv ausfallen kann.

Heute bin ich glücklich und zufrieden

Malbild: Rot-gelbe Trichter fließen von oben nach unten vor einem blau-grün wechselnden Hintergrund ineinander.
Farbenfrohe Trichterkette

Und dennoch möchte ich nicht vergessen zu erwähnen, dass ich heute ein sehr glücklicher, zufriedener Mensch bin, der sein Leben selbstbewusst und selbstbestimmt meistert, und dass ich immer wieder große Freude daran habe, meine Interessen und Fähigkeiten wie auch kreativen Begabungen zum Beispiel in Form dieser umfangreichen Homepage mit anderen Menschen zu teilen.

 

ls24.04.2012