Meine Lebensgeschichte

Hallo und herzlich willkommen in meinem Leben!

Nachfolgend erzähle ich Dir Ausschnitte aus meiner Lebensgeschichte, so, wie sie sich mir im und bis zum April 2009 dargestellt hat.

Wenn Du auf den ersten blauen Button unter diesem Textblock klickst, dann klappt der erste Abschnitt auf, und Du kannst mit dem Lesen beginnen. Es öffnet sich jeweils nur der ausgewählte Abschnitt. Die Buttons zu den anderen Abschnitten findest Du dann jeweils über, bzw. unter dem aktuell aufgeklappten Text. Viel Spaß beim Lesen wünscht Dir

die schreibmaus Lothar

 

Teil 1

Ich wurde am 15. Februar 1968 in Kassel als erstes Kind meiner damals 27 und 28 Jahre alten Eltern geboren. Meine Eltern waren frisch verheiratet (ein Jahr) und mochten sich sehr gern. Beide waren dabei, als Lehrer zu arbeiten, als meine Mutter die Babypause nahm. Zweieinhalb Jahre später kam mein Bruder zur Welt. Meine Eltern freuten sich sehr. Die früheste Erinnerung in meinem Leben ist, als ich mit meinem Vater in einem Krankenhaus auf dem Flur auf einer Bank sitze und wir darauf warten, dass wir meine Mutter und das Baby besuchen können. Eine Schwester kommt, und fragt mich, ob ich ein Brüderchen bekommen habe. An mehr kann ich mich nicht erinnern von dieser Szene.

Wir wachsen als glückliche Kleinfamilie in Kassel auf. Ein Lehrerkollege meines Vaters geht zwei Jahre später mit seiner Familie für bestimmte Zeit ins Ausland, nach Afghanistan und schwärmt meinen Eltern nun fortan von diesem phantastischen Land und seinen Leuten vor. Meine Eltern kriegen Lust, was Neues auszuprobieren. Meine Mutter war schon immer neugierig auf neue Länder und andere Menschen und ihre Kulturen. Sie ist die treibende Kraft bei der Entscheidung, dass auch wir zwei Jahre später nach Afghanistan ziehen. Wir bekommen eine Erlaubnis für vier Jahre. Zunächst arbeitet nur mein Vater in einem von deutscher Seite aus geförderten Entwicklungshilfeprojekt.

An der namhaftesten Schule in Afghanistans Hauptstadt Kabul (wo wir leben), wird afghanischen Schülern in der Mittelstufe in deutschsprachigen Intensivkursen Deutsch beigebracht. In der Oberstufe bekommen Sie dann in deutscher Sprache naturwissenschaftlichen Unterricht in Mathematik, Physik, Biologie, Chemie. Bei entsprechend gutem Abschluss hatten sie die Chance, ein Stipendium für eine deutsche Uni zu bekommen, um dann dort Ingenieur, Bauwesen, Architektur, Wirtschaftswissenschaften o. ä. zu studieren. Nach dem Studium sollten sie dann mit dem erworbenen Fachwissen nach Afghanistan zurückkehren und dabei helfen, ihr Land mit aufzubauen. 1974, als wir nach Afghanistan gingen, war das Land schon eines der drei ärmsten Länder der Welt. Durch dieses deutsche Hilfe-zur-Selbsthilfe-Projekt brauchte man damals in Kabul etliche deutsche Lehrerinnen und Lehrer. Und so kamen auch wir über eine Bewerbung beim Deutschen Akademischen Auslandsdienst nach Afghanistan.

Ich war sechs Jahre alt, mein Bruder dreieinhalb, als wir dort ankamen. Das Land, seine Menschen, diese gänzlich andere, fremde, aber freundliche Kultur haben enorme Eindrücke bei uns allen hinterlassen. Weil es so viele deutsche Paare mit Kindern (vor allem LehrerInnen) dort gab, gab es eben für die Kinder auch eine kleine deutsche Schule, auf der ich nach einer kurzen Zeit im Kindergarten eingeschult worden bin. Ich hatte viele Freundinnen und Freunde und habe mich dort sehr, sehr wohl gefühlt. Mein Bruder ging noch in den deutschen Kindergarten in Kabul. Zu der Zeit begann meine Mutter wieder, zu arbeiten. Sie arbeitete dann ebenfalls an der afghanischen Schule in Kabul und unterrichtete die Schüler in der Mittelstufe in Deutsch-Intensivkursen. Uns allen ging es blendend. Wir hatten ein großes Grundstück gemietet, auf dem ein Riesenbungalow stand, zweistöckig. Außerdem bauten wir uns in den Garten noch ein Schwimmbad, was bei allen Deutschen vor Ort irgendwie üblich schien. Uns ging es gut.

Mit Ankunft in Afghanistan begannen so meine ersten Tics, die ersten Ausläufer meines späteren Tourette-Syndroms. Erstmalig konnten sie meine Eltern noch in Deutschland (ich war fünfeinhalb) wahrnehmen, während eines Urlaubs an der Ostsee. Natürlich dachten sie sich nichts dabei und die Tics waren auch nur vorübergehend präsent. In Afghanistan tauchten sie wieder auf. Es begann ganz harmlos mit einem Augenblinzeln und zwanghaftem Zunge herausstrecken, so, als ob ich jemanden ärgern wollte (vielleicht wollte ich das auch irgendwie). Nach Zeiten der Tic-Abstinenz kamen sie manchmal wieder, später gesellte sich ein Kopfschütteln und Grimassenschneiden hinzu. Während es zu Beginn in Afghanistan Phasen von bis zu einem halben Jahr gab, wo die Tics praktisch verschwunden waren, waren sie am Ende unseres vierjährigen Aufenthaltes fast permanent zu beobachten. Außerdem hatten sie in der Bandbreite und Intensität leicht zugenommen. Wer mich damals länger beobachtete, musste feststellen, dass ich schon recht auffällig war in meinem Verhalten. Das alles hatte zum Glück aber keinen Einfluss auf meine schulischen Leistungen. Ich war von Anfang an ein sehr neugieriger und aufgeweckter, guter Schüler. Auch Freunde zogen sich nicht von mir zurück, ebenso wenig meine Eltern.

Erwähnenswert ist vielleicht noch, dass wir, zusammen mit anderen Familien, in jedem unserer vier Aufenthaltsjahre in Afghanistan einen dreimonatigen Urlaub in Indien gemacht haben, in dem wir durch ganz Indien und seine Anrainerstaaten gereist sind. Ich habe also schon früh den gesamten Himalaya kennen gelernt, neben Afghanistan auch Pakistan, Indien, Sikkim, Nepal, Ladakh und Bhutan bereist. Einmal habe ich sogar die Sonne östlich des Mount Everest, ca. 40 bis 50 Kilometer Luftlinie von diesem höchsten Berg der Welt aufgehen und seine Spitze in rotes Licht tauchen sehen. Ein unvergesslicher Augenblick!!!

Am Ende der vier Jahre in Afghanistan kehrten wir reich beschenkt, mit unendlich vielen Sinneseindrücken und vielen neuen, unvergleichlichen Lebenserfahrungen zurück in die "zivilisierte" Welt, nach Deutschland. Das war 1978. Mein Bruder wechselte nun in die dritte Klasse und meine Eltern schulten mich in Kassel mit 10 Jahren ins Gymnasium ein, an dem mein Vater zuvor als Lehrer gearbeitet hatte und an dem er auch nach seiner Rückkehr wieder eine Anstellung bekam.

Teil 2

Nach der Rückkehr aus Afghanistan kaufte mein Vater in einem Vorort von Kassel ein Grundstück mit Haus, in dem wir nun fortan lebten. Wenige Monate später kam meine Mutter aus Afghanistan nach; sie war noch geblieben, um den Umzug zu regeln. Am 1. September 1978 wurde ich in die fünfte Klasse eingeschult. Ich gewöhnte mich schnell wieder an deutsche Verhältnisse. Die Schule machte Spaß, bis auf die Hänseleien, die ich wegen der Tics zunehmend zu ertragen hatte. Dennoch blieben meine schulischen Leistungen gut. Oft wunderte ich mich über mich selbst, weil ich die vokalen und motorischen Tics, die ich mittlerweile so von mir gab, nicht einschätzen konnte. Ich merkte nur: ich war machtlos dagegen. Ich hatte zwar viele Freunde, aber ich hatte auch viele Tics. Das Tourette wurde langsam stärker.

Die Zeit des Konfirmationsunterrichtes begann und wurde ein Spießrutenlaufen mit den Kindern aus unserem Dorf. Ich wurde nachdenklicher und einsamer. Oft wünschte ich mir eine Freundin, die ich nicht hatte. Ich sah, wie Klassenkameraden mit Klassenkameradinnen "gingen" und erlebte schmerzhaft mein Nicht-so-sein-wie-die. In der Schule war ich wohl wegen meiner guten Noten und meiner sozialen Ader anerkannt, vielleicht auch, weil ich der Lehrersohn war, den man zu respektieren hat. Aber wirklich angenommen fühlte ich mich nicht. In der Zeit stürzte ich mich in die Musik. Ich kaufte mir eine teure Anlage und begann, mein technisches Wissen auszubauen. Außerdem schnitt ich mir Musikkassetten nach Belieben zusammen, in dem ich Musik aus dem Radio aufnahm. Ich hatte was, wo ich mitreden konnte, auch ohne die Bravo zu lesen.

In den Jahren zwischen 10 und 14 begann ich meine Sexualität neu zu entdecken. Ich fand heraus, dass mein Schwanz nicht nur zum Pinkeln taugte, nein, damit ließen sich auch schöne Gefühle zaubern. Ich glaube, ich masturbierte ziemlich häufig. Oft schaute ich mir Warenhauskataloge mit Models in Unterwäsche an, um mich anzuturnen. Aber auch Zeitschriften wie der Stern, Eltern und die Werbung taten da ihr übriges. Mit der Zeit entdeckte ich die Pornohefte meines Vaters, die ich regelmäßig konsumierte. Zeitgleich erlebte ich, wie ich abends oft stundenlange, zwanghafte sexuelle Phantasien mit Klassenkameradinnen hatte. Auf der einen Seite machten mich diese Phantasien ziemlich an, auf der anderen Seite schämte ich mich dafür. Irgendwie fand ich das nicht normal. Alles, was mit Sexualität zu tun hatte, schien mich magisch anzuziehen: Ich sog Bilder, Texte, Phantasien, Gespräche oder anzügliche Witze förmlich in mich auf. Irgendwie schien sich alles nur noch um Sex und dessen Erfüllung zu drehen. Ich sehnte mich weiterhin nach einer Freundin und nach den ersten realen sexuellen Erfahrungen.

Das Verhältnis zu meinem Vater wurde immer angespannter. Er konnte mit meiner Behinderung, die zu dem Zeitpunkt noch für niemanden eine war, nicht umgehen. Er äffte mich manchmal nach, schaute sich in der Öffentlichkeit verstohlen um, wenn ich Tics hatte. Er schämte sich sehr für mich, anstatt zu mir zu stehen. Meine Mutter erkannte, dass das mehr als nur ein paar Tics waren, die da ständig aus mir heraus purzelten. Sie begann, sich zu erkundigen, und mit 15 Jahren kam ich für zunächst sechs Wochen für einen stationären Aufenthalt in eine Klinik für Psychosomatik nach Bad Zwesten, 40 Kilometer südlich von Kassel. In der Schule pausierte ich solange, was kein größeres Problem darstellte.

In dieser Klinik lebte ich richtig auf. Ich hatte eine Gruppentherapie mit vier anderen Jugendlichen und jungen Erwachsenen, mit denen ich mich gut verstand. Ich ging viel spazieren, machte viel Sport und hatte viele intensive Gespräche mit anderen Leuten. Nach wenigen Wochen begannen meine Tics zu verschwinden. Der Aufenthalt wurde von sechs auf elf Wochen verlängert. Mir tat das gut. Weg von zuhause, hatte ich die Möglichkeit, mich mit meiner ungesunden familiären Situation auseinanderzusetzen und fand schließlich heraus, dass irgendetwas zwischen mir und meinem Vater stand, was ich nicht verstand. Mit dieser Erkenntnis kehrte ich zurück ins Leben, das mich schnell wieder einholte. Nach zwei Wochen zuhause waren sämtliche Tics, die zuvor für Wochen verschwunden schienen, wieder präsent. Nach den Sommerferien kam ich dann in die zehnte Klasse.

Meine Tics wurden immer bunter, lauter und ansehnlicher, sprich: auffälliger. Ich rief verschiedene Worte wie "Arsch" und "Ficken" und verkürzte sie geschickt zu "Asch" und "Fih", sodass sie nur schwer zu erkennen waren. Meine motorischen Tics waren inzwischen sehr viel auffälliger und vielfältiger geworden, erstreckten sich über alle Gliedmaßen, den Kopf und den Nacken. Aber auch die vielen vokalen Tics brachen sich mittlerweile ihre Bahnen. Dazu kamen unterschiedliche Zwänge wie Zwangsgedanken, Zwangshandlungen und aggressive Ausbrüche. Zuhause ließ ich dann die Tics und Zwänge, die ich tagsüber während der Schule bedingt unterdrücken konnte, vermehrt heraus. Es war oft so, dass ich erst in den eigenen vier Wänden das Gefühl hatte, mich austoben zu können. Das führte natürlich auch zunehmend zu Spannungen mit meiner Familie, die sich das Ganze bis dahin mehr oder weniger geduldig angesehen und angehört hatte.

Drei Jahre nach dem ersten Aufenthalt in Bad Zwesten hatten die Tics eigentlich langsam aber ständig zugenommen. Wieder war es meine Mutter, die die Initiative ergriff. Sie besprach sich erneut mit Ärzten, die einen weiteren Aufenthalt in Bad Zwesten befürworteten. Dann fuhr ich gegen Ende der zwölften Klasse wieder in die Klinik. Ein anderes Klinikgebäude und andere Leute bewirkten, dass ich wieder sehr neugierig wurde. Ich war gerade 18 Jahre alt und hatte diesmal eine Einzelgesprächstherapie bei einem Psychologen. Die Zeit verging wie im Fluge. Auch diesmal wurden aus sechs Wochen elf. Eine erste zarte Freundschaft zu einer Frau bahnte sich an. Diesmal blieben meine Tics und ein Arzt verriet mir, dass ich sie auch nie wieder loswerden würde. Ich war nicht einmal niedergeschmettert. Darüber hinaus erfuhr ich, dass die Sache auch einen Namen hatte: Gilles-de-la-Tourette-Syndrom. Damit konnte ich erst einmal nichts anfangen. Der Klinikaufenthalt endete für mich diesmal mit der psychologischen Erkenntnis, dass ich irgendwie zwischen meinen Eltern stand, die sich schon lange nicht mehr miteinander verstanden. Noch während meines Aufenthaltes in Bad Zwesten trennte sich meine Mutter von meinem Vater und suchte uns in Kassel eine Wohnung, in der wir bleiben konnten.

Teil 3

Von nun an lebten meine Mutter und ich getrennt von meinem Vater. Mein Bruder pendelte zwischen beiden Elternteilen, weil er da, wo mein Vater lebte, noch viele Freunde hatte. Mir tat die räumliche Trennung von meinem Vater gut. Dennoch sah ich ihn fast täglich in der Schule. Meine Tics indes ließen nicht nach. Im Gegenteil: Der schulische Stress in der Oberstufe bewirkte, dass sie eher noch zunahmen. Zum Ausgleich und um meinem Bewegungsdrang zu folgen, war ich seit einiger Zeit intensiv dabei, Volleyball zu spielen. Mein Bruder konnte mich für den Sport begeistern, da er schon eine Weile dabei war. So spielten wir etliche Jahre zusammen in einer Mannschaft, was mir viel Spaß machte.

Da ich meine therapeutische Arbeit aus Zwesten unbedingt fortsetzen wollte (ich überlegte sogar, regelmäßig weiter zur ambulanten Therapie nach Zwesten zu fahren), suchte ich mir in Kassel einen Therapieplatz. Die Therapeutin war mir sympathisch und ich begann mit wöchentlichen Gesprächen. Dabei versuchte ich an dem anzuknüpfen, wo ich in Zwesten aufgehört hatte: Den Konflikten meiner Eltern untereinander und dass ich irgendwie dazwischen stand. Außerdem versuchte ich ganz langsam, mich behutsam und vorsichtig mit meiner Erkrankung auseinander zu setzen.

Das Abitur rückte näher. Trotzdem nahmen meine Faulheit und Unlust, was dafür zu tun, zu. In der Schule ließ ich in fast allen Fächern leicht nach, zumindest im Vergleich zur Mittelstufe. Das störte mich allerdings wenig, da ich insgesamt immer noch ziemlich gut dastand. Mittlerweile machte ich mir immerhin klar, dass ich es aufgrund meiner Krankheit auch nicht besonders einfach hatte. Ich gönnte mir ein Nachlassen. Als ich zur Musterung einberufen wurde, "verließ" ich mich zum ersten Mal bewusst auf meine Behinderung. Ich wollte ohnehin verweigern und hatte diesbezüglich auch schon Kontakte mit meinem Pfarrer aus Konfirmationszeiten aufgenommen. Doch als ich sah, was ich dafür hätte tun müssen, verlor ich die Lust und machte mir klar, dass sie mich vermutlich ohnehin ausmustern würden. So war es dann auch. Meine erste Fünf, die mich glücklich machte. In meinem Leistungskurs Mathematik wunderte sich über meine Ausmusterung niemand. Das war eigentlich das erste Mal, wo ich mein Anderssein ganz deutlich als Erwachsener spürte.

Der zunehmende Druck in der Schule führte zu mehr Tics, vor allem in der neuen Wohnung. Die Nachbarn, die wir bis dahin nie hatten, begannen sich über den Lärm zu beschweren. Langsam wussten wir nicht mehr, was wir tun sollten. Mit der Kraft der Verzweifelung zog ich das Abitur durch. Obwohl meine Leistungen seit zwei, drei Jahren leicht nachließen, machte ich das Abi mit einem Schnitt von 2,3. Darauf war ich eigentlich noch ziemlich stolz. Über meine weitere Zukunft hatte ich mir bis dahin nur selten Gedanken gemacht. Nach dem Abi stand erst mal ein weiterer Klinikaufenthalt an, diesmal in der Neurologie in Bethel. Insgesamt verbrachte ich drei Wochen dort. Etliche Untersuchungen wurden gemacht, die keine Resultate brachten. Immerhin war der zuständige Chefarzt ein Mann, der schon mal Tourette-Patienten gehabt hatte. Ich probierte verschiedene Medikamente durch, ebenfalls ohne nennenswerten Erfolg.

Weil sich zuhause die Nachbarn zunehmend über den Lärm, den ich machte, beschwerten, beschlossen wir, dass ich wieder umziehen sollte. Denkbar war eigentlich nur unser eigenes Haus, wo wir vorher alle zusammen gewohnt hatten. Da ich räumliche Distanz zu meinem Vater brauchte, beschlossen wir, dass ich mir den Dachboden ausbauen sollte, in dem ich dann zumindest mein eigenes Wohnreich haben würde. Nachdem ich aus Bethel zurückgekehrt war, machten wir uns an den Ausbau. Alle halfen mit: meine Eltern, soweit es die Schule zuließ, und mein Bruder soweit er mochte und konnte. Nach einem knappen halben Jahr war es soweit. Ich zog zurück zu meinem Vater und Bruder, hatte mein eigenes Reich unter dem Dach. Bad und Küche benutzte ich allerdings weiterhin mit ihnen zusammen. Nachdem ich mir ein Traumzimmer von 50 qm eingerichtet hatte, war die Frage, wie es weitergehen sollte.

Da ich mit meinem Cousin in der Freizeit und in der zwölften Klasse im Kunstunterricht mit Klassenkameraden erfolgreich Trickfilme gedreht hatte, überlegte ich, das Fach „Visuelle Kommunikation“ an der Gesamthochschule in Kassel zu studieren. Wegziehen wollte ich nicht. Ich konnte mir auch nicht vorstellen, mit meinen starken Tics irgendwo lange wohnen zu können. Eine Lehre wollte ich ebenfalls nicht machen. Ich hatte schon Lust auf ein Studium. So meldete ich mich für die Aufnahmeprüfung an. Bis dahin wollte ich noch einen Film drehen. In meinem Zimmer unter dem Dach begann ich, einen Trickfilm mit Knetfiguren zu machen. Wochen intensiver Arbeit begannen und schließlich war ich auch erfolgreich. Dennoch fiel ich im Sommer 1988 glatt durch die Aufnahmeprüfung. Alle Mühe war vergeblich gewesen. Ich war verzweifelt. Was sollte ich jetzt noch machen? Irgendwie konnte ich mir gar nichts vorstellen.

Meine Therapeutin half mir ganz gut über diese Krise hinweg. Ich erinnerte mich daran, dass ich in der Oberstufe mal daran gedacht hatte, Psychologie zu studieren, doch ich hatte auch davon gehört, dass mann da viel mit Statistik zu tun hat. Das interessierte mich nicht. Ich dachte an irgendetwas Soziales, etwas mit Menschen. Ich blätterte das Vorlesungsverzeichnis durch und suchte nach was Sozialem. Ich stieß auf den Fachbereich Sozialwesen. Ohne eine Vorstellung zu haben, was mich dort erwarten würde, meldete ich mich nach kurzer Überlegung für den Herbst dort an.

So begann ich im zum Wintersemester 88/89 mit meinem Sozialwesenstudium in Kassel. Ich war froh, nicht in eine andere Stadt ziehen zu müssen und konzentrierte mich auf das Studium. Anfangs war ich verunsichert. So viele junge Leute tummelten sich auf so kleiner Fläche und keiner kannte mich und ich kannte keinen. Als ich sah, dass es vielen anderen StudienanfängerInnen ähnlich erging wie mir, fasste ich Mut. Langsam wurde ich selbstbewusster. Es gab soviel Neues und Interessantes zu entdecken und ich sah auch etliche behinderte StudentInnen, gerade in meinem Fachbereich. Mit 21 Jahren feierte ich die ersten Feten in meinem Leben und lernte viele Leute kennen. Allmählich verlor ich die Angst vor Fremden und Fremdem. Ich wurde regelrecht neugierig. Mit der Zeit bekam ich Kontakt zu einem anderen behinderten Studenten, der zwei Semester über mir war. Er bot bereits selbst Seminare zum Thema "Behinderung" für andere Studierende an. Ich nahm teil und sammelte viele Erfahrungen, insbesondere lernte ich Rollstuhlfahren für Anfänger und machte auch die Erfahrung, mich blind über den Campus zu bewegen. Eines Tages fragte mich der behinderte Kommilitone, was für eine Behinderung ich habe. Ich antwortete: "Das ist keine Behinderung, das ist eine psychische Erkrankung." Er stutze und meinte, für ihn sei ich genauso behindert, wie all die anderen Behinderten hier an der Uni. Diesmal stutze ich und wurde nachdenklich. Das war der Augenblick, in dem ich begriff, dass Behinderung ganz eng mit Diskriminiertwerden verknüpft ist. Ich begann, mich als Behinderter zu begreifen und war später fast schon stolz, dazuzugehören. Es war so etwas wie eine neue Familie, Leute die mir sympathisch waren, mit denen ich viel gemeinsam hatte und die mir auch viel geben konnten. Ich fühlte mich immer wohler, wurde langsam immer selbstbewusster und traute mich nun auch mehr, mein Tourette zu zeigen, das ohnehin nach Offenbarung verlangte, indem ich viel zuckte und tickte und auch etliche -zum Teil sehr laute- Schreie manchmal sogar auch während der Seminare und Vorlesungen von mir gab. Ich wurde freier und politischer. Ich verstand, dass auch die individuelle Behinderung eine politische Dimension hat und fing an, mich für die Rechte und die Gleichberechtigung behinderter Menschen einzusetzen. Dies war mittlerweile ein Schwerpunkt meines Studiums geworden.

Dann, im Sommer 89 bekam ich starke Schlafstörungen. Schlafen konnte ich noch nie gut, aber es ging soweit, dass ich teilweise erst gegen vier oder fünf Uhr morgens einschlief. Während der Semesterferien ließ sich das noch gut ausgleichen, aber als im Oktober das Semester wieder begann, war das schon ganz schön anstrengend. Manchmal bekam ich nur zwei oder drei Stunden Schlaf pro Nacht, um dann am nächsten Morgen wieder in die Uni zu fahren und zu studieren. Einige Male schlief ich während der Seminare ein, so kaputt war ich. Ich machte mir keine großen Gedanken und versuchte, durchzuhalten. Die Therapie war intensiver geworden, besonders, seitdem ich ganz anders mit meiner Behinderung umging. Es ging viel um mich und mein Leben und meine wachsenden Auseinandersetzungen mit meinem Vater zuhause.

Zu dem Zeitpunkt besuchte ich in der Uni eine studentisch organisierte Männergruppe, weil ich mich auch vermehrt mit mir als Mann auseinandersetzen wollte. Nachdem ich ein halbes Jahr kaum mehr schlafen konnte und in der Männergruppe eines Abends ein heftiger Konflikt zutage trat, bei dem ich die Entscheidung traf, die Gruppe zu verlassen, geschah es dann: Ich saß abends in meinem Zimmer und dachte wieder einmal über mein Leben und mein Sosein nach und warum alles so war, wie es war. Ich überlegte, warum ich diese Behinderung hatte und versuchte mir die abstrusesten Gründe vorzustellen. Plötzlich hielt ich inne: Sexueller Missbrauch? Konnte das sein? Nein, das konnte eigentlich nicht sein, und wenn, wer sollte es denn gewesen sein? Ich verwarf den Gedanken und versuchte, mir was anderes zu überlegen. Sooft ich mir was anderes ausdachte, sooft kam ich darauf zurück: Es musste sexueller Missbrauch sein, es gab einfach keine andere Erklärung. Ich überprüfte alles, was ich an Wissen angesammelt hatte, über mich, meine Behinderung, meine Beziehung zu meinem Vater. Ich überprüfte jedes verdammte Detail meines Lebens, das mir an diesem Abend dazu einfiel und stellte fest: Es passte alles, es passte einfach alles!

Es gab nichts, was dieser Theorie zu widersprechen schien. Ich überlegte, konnte das sein? Wieso wusste ich bisher nichts davon? Und er? Lebte er mit diesem Wissen mit mir hier in diesem Haus? Ich konnte es mir nicht vorstellen und war gleichzeitig sicher, dass dieser Gedanke immer mehr zur schrecklichen Gewissheit wurde, je länger ich darüber nachdachte. Erstaunlicherweise war ich nicht einmal besonders entsetzt, nein, ich war glücklich! Ich war glücklich, ein ganz, ganz wesentliches Puzzlestück zu meinem Leben gefunden zu haben, und ich war glücklich darüber, dass ich es selbst entdeckt hatte!

In den folgenden Tagen und Wochen wich meine anfängliche Unsicherheit immer mehr einer eisernen Gewissheit: Ich wusste, dass es so gewesen war, auch wenn ich keinen vorzeigbaren Beweis erbringen konnte. Ich selbst war mir Beweis genug. Langsam aber sicher entwickelte ich einen sehr gesunden Hass auf meinen Vater, der mich als kleines Kind, vielleicht schon als Einjähriger oder Zweijähriger, möglicherweise über viele Jahre hinweg sexuell missbraucht und vergewaltigt hatte. In den folgenden Monaten erzählte ich vielen Freunden und Freundinnen, aber auch zum Teil völlig unbekannten Leuten davon. Ich musste es einfach loswerden und mitteilen. Auch meiner Therapeutin und meiner Mutter erzählte ich davon. Meine Therapeutin schien nicht wirklich überrascht, war sie doch bereits davon ausgegangen, dass mein Vater mich zumindest seelisch über viele Jahre hin missbraucht hatte. Meine Mutter war geschockt, wohl auch deshalb, weil sie diesen Mann einst geliebt hatte und weil sie sich nun fortan mit dem Gedanken auseinandersetzen musste, mich nicht geschützt haben zu können. Ich machte ihr keine Vorwürfe, im Gegenteil: Ich sagte ihr, dass ich ohne ihre Liebe und Fürsorge und Unterstützung besonders in den letzten Jahren wahrscheinlich nicht überlebt hätte, dass sie diejenige war, die mir Kraft, Mut und Stärke vermittelt hatte. Das schweißte uns noch mehr zusammen. Mein Bruder, dem ich auch davon erzählte, war der Dritte im Bunde. Wir hielten noch mehr zusammen als früher, auch wenn wir von unserer Mutter getrennt im Hause meines Vaters lebten.

Teil 4

Das war allein schon deswegen gut und sinnvoll, weil wir beide uns gegen unseren Vater zur Wehr setzen mussten, zumindest hatten wir so das Gefühl. Ich lebte unter dem Dach in meinem selbst errichteten Reich oder besser: Nest. Und mein Bruder war oft außer Haus. Wenn er da war, dann hielt er sich mit seiner Freundin in seinem Zimmer auf oder wir saßen unten zu dritt zusammen.

Was meinen Schlaf anging, so war ich wieder viel besser dran. Ich schlief durchschnittlich wieder meine sechs, sieben Stunden. Die Uni indes lief weiter. Aber ich konnte wieder mithalten. Dennoch lief ich manchmal herum wie Falschgeld. Zudem war ich innerlich sehr aggressiv und fast permanent angespannt. Ich lebte den Hass auf meinen Vater. Zuhause ließ ich mir nichts mehr sagen oder gefallen. Ich inszenierte einen starken Psychoterror gegen meinen Vater; nicht, weil ich Spaß daran hatte, sondern weil ich in unseren gemeinsamen vier Wänden die Distanz zu ihm suchte und auf diese Weise auch fand.

Mein Bruder und seine Freundin litten sehr unter diesen offenen Streitereien, die fast immer damit endeten, dass entweder ich oder mein Vater schweigend oder brüllend den Raum verließen. Es war Krieg angesagt. Auch wenn mein Bruder und seine Freundin meinen Vater ebenso wenig mochten, waren sie oft genervt, trauten sich aber auch nicht, etwas zu sagen. Das Ganze spitzte sich noch zu, als mein Vater von einer Ägyptenreise eine deutsche Freundin mitbrachte. Sie war mit der Situation in unserem Haus völlig überfordert, zumal sie meine Aggressionen genauso abbekam (denn ich verachtete sie ebenfalls) und ebenso wie mein Vater dafür keine Erklärung hatte. Nach schließlich und endlich zwei Jahren Krieg zwischen mir und meinem Vater war es soweit: Mein Vater hatte die Schnauze endgültig voll, oder besser: Er gab auf. Er war dem Stress, dem er durch mich ausgesetzt war, nicht mehr gewachsen und beschloss, zu seiner Freundin zu ziehen. Was war ich erleichtert! Ich hatte mich gegen meinen Vater durchgesetzt, wenngleich sein Verlassen des Hauses nicht mein Ziel gewesen war, zumindest nicht mein direktes. Mein Vater zog aus. Meine Mutter zog wieder ein. Ein neues Kapitel begann.

Ich konnte mich nun wieder besser auf die Uni konzentrieren, wurde freier und meine Aggressionen ließen langsam nach, wenigstens die nach außen gelebten. Zu meinem Schwerpunkt "Behinderung" kam der Schwerpunkt "Sexuelle Gewalt" hinzu. Zunächst informierte ich mich umfassend und allgemein. Neben der persönlichen Auseinandersetzung mit dem Thema kam die wissenschaftliche hinzu. In einem Seminar lernte ich als einziger Mann zunächst Frauen kennen, die ähnliches erlebt hatten. Eines Tages sprach mich eine Kommilitonin an und unterhielt sich lange mit mir. Langsam befreundeten wir uns leicht. Zu der Zeit - ich war bereits im achten Semester - absolvierte ich mein erstes Berufspraktikum im Verein zur Förderung der Autonomie Behinderter, fab e.V. in Kassel. Nachdem ich bereits seit längerem in der Interessengemeinschaft behinderter Studierender an der Gesamthochschule aktiv war und auch die Arbeit des Autonomen Behindertenreferates im AStA der Uni kennengelernt hatte, führte mich dieser Weg zum fab e.V.. Ich beschloss, dort mein erstes Praktikum zu machen, um die politische Behindertenarbeit noch besser kennen zu lernen. Das war im März 1992.

Im Wintersemester hatte ich mein erstes Seminar zu sexuellem Missbrauch gehabt. Außer mir waren nur Frauen anwesend gewesen, darunter auch Lena, die mich dann später eben ansprach. Sie war gerade zu ihrer Geliebten nach Hamburg gezogen. Als sie im Mai studiumsbedingt in Kassel zu tun hatte, bot ich ihr an, bei mir zu übernachten. Sie war einverstanden. In der Nacht verliebten wir uns ineinander. Es war großartig. Nie zuvor hatte ich solche Gefühle gefühlt. Ich schwebte im siebten Himmel. Von da an waren wir zusammen; Lena führte nun zwei Beziehungen, blieb aber in Hamburg wohnen. Das führte dazu, dass wir uns nur alle vier bis sechs Wochen für ein Wochenende hatten. Es waren Zeiten voller Hunger und Durst. Trotzdem war ich glücklich wie nie zuvor in meinem Leben: Ich hatte eine Freundin, meine erste Freundin!

Die Beziehung war sehr, sehr intensiv. Ich durchlebte sie mit Haut und Haaren. Nach nur 15 Monaten Dreisamkeit entschied sich Lena für ihre Geliebte in Hamburg. Ich war unendlich traurig. Um den Schmerz etwas zu vergessen, fuhr ich mit anderen behinderten KommilitonInnen nach Mainz, um an meinem ersten Peer Counseling - Seminar teilzunehmen. Dort geschah, was ich nie erwartet hätte: Ich flirtete heftig mit einer anderen Teilnehmerin des Seminars, meiner zukünftigen Freundin Paula. Nach dem Seminar blieb ich noch eine Nacht bei ihr, eine schöne und kuschelige Nacht. Am nächsten Tag fuhr ich zurück nach Kassel, ohne so richtig zu wissen, ob ich mich nun verliebt hatte oder nicht. Ich wusste es nicht. In der darauf folgenden Zeit besuchte ich Paula in Mainz immer öfter. So langsam verliebten wir uns. Das Tourette, das anfangs sehr zurückhaltend geblieben war (wohl auch, um sie nicht gleich mit seiner Intensität so zu erschrecken), präsentierte sich nun aber mit voller Wucht. Paulas Eltern konnten sich eine dauerhafte Beziehung zwischen uns nicht vorstellen. Die Zeit war schwierig und doch schön.

Inzwischen hatte ich im Studium mein zweites Praktikum absolviert. Ich hatte mich für die mannagerie, das Kasseler Männerzentrum, entschieden, vor allem deshalb, weil ich mich mit meiner eigenen Rolle als Mann mehr und mehr auseinander setzen wollte. Die ehrenamtlichen Mitarbeiter der mannagerie waren ständig hin und her gerissen zwischen der Durchführung und Planung von Angeboten und Veranstaltungen für interessierte Männer einerseits, und dem Wunsch nach eigener Auseinandersetzung mit männerrelevanten Themen andererseits. Zudem gab es inhaltliche und finanzielle Konflikte. Dies betraf nicht nur die ehrenamtlichen, sondern auch die festen Mitarbeiter, also mich und einen anderen Praktikanten sowie eine ABM-Kraft. Die Zeit in der mannagerie war anstrengend und aufreibend, aber auch wichtig und sinnvoll für mich als Mann. Sie war so mein erster männerspezifischer Rahmen, in dem ich mich bewegen lernte.

Nach dem Praktikum arbeitete ich weiter ehrenamtlich in der mannagerie. Aber die Konflikte mit anderen Mitarbeitern häuften sich, und ich fühlte mich weder verstanden noch aufgehoben. Zu der Zeit schrieb ich an meiner zweiten Studienarbeit. Das Thema war für mich klar: Langzeitfolgen sexueller Gewalt bei Männern. Das Arbeiten war schwierig und mühsam. Dennoch konnte ich auf das Ergebnis schließlich stolz sein, was ich auch war. Meine Dozentin belohnte mich entsprechend. Damit war mein Studium weitestgehend beendet. Jetzt brauchte ich nur noch das Diplom.

Die Zeit mit Paula blieb schwierig und schön zugleich. Mein Tourette hatte seinen Höhepunkt erreicht. Mit 26 Jahren war ich so wild am Ticken, Zucken und Brüllen, wie nie zuvor. Starke Zwänge und aggressive Ausbrüche machten mir und ihr das Leben mittlerweile zur Hölle. Während mein Bruder und seine neue Freundin sich sehr zurückhielten, machten mir meine Mutter und Paula unmissverständlich klar, dass sie das nicht mehr lange aushalten würden. Sie waren am Ende ihrer Kräfte. Zum ersten Mal bekam ich wirklich Angst. Was würde werden, wenn ich diese beiden Frauen, meine wichtigsten sozialen Bezugspersonen, verlieren würde? Ich wusste es nicht.

In einem Bericht hatten wir von neuen Medikamenten gehört. Aber ich hatte keine Lust, sie auszuprobieren. Wer wäre ich ohne Tourette-Syndrom? Ich hatte Angst. Da schien sonst nichts zu sein. Ein dreiviertel Jahr hielt ich dieses Spiel durch. Dann wurden Paulas und meiner Mutter Verzweifelung zu meiner eigenen. Schließlich beschloss ich, die Medikamente wenigstens auszuprobieren. Ich fuhr zu einem Arzt nach Göttingen, den ich zuvor auf der zweiten deutschen Tourette-Tagung kennen gelernt hatte. Er verschrieb mir ein Medikament, das ich von nun an täglich nahm. Es war ein Anti-Depressivum. Aber ich nahm es nicht, weil ich Depressionen gehabt hätte, sondern weil es auch gegen aggressive Ausbrüche und gegen starke Zwangsstörungen helfen sollte. Ich war gespannt.

Teil 5

Laut Beipackzettel war eine spürbare Wirkung erst nach 6 bis 7 Wochen zu erwarten. Und so wartete ich. Wir warteten. Nach etwa sechs Wochen geschah es dann: Von einem auf den anderen Tag hatte ich keine aggressiven Ausbrüche mehr! Ich konnte es kaum glauben. Nach zwanzig Jahren heftigsten Tourettes nun diese Wandlung, irre! Die Zwänge reduzierten sich auch etwas, waren aber nach wie vor vorhanden, genauso wie alle anderen motorischen und vokalen Tics, diese ließen noch nicht nach. Ich war trotz meiner Vorbehalte froh, das Medikament ausprobiert zu haben, meine Mutter und Paula waren es auch. Paula wollte, dass ich weitere Medikamente ausprobierte, da die anderen Symptome noch nicht nachließen. Im Frühjahr 95 fuhren Paula und ich wieder zu meinem Arzt nach Göttingen. Er verschrieb mir jetzt zusätzlich noch ein Neuroleptikum.

Nach circa zwei Wochen begann auch dieses zu wirken. Die Tics reduzierten sich eine ganze Ecke, waren aber nach wie vor noch hör- und sichtbar. Schnell erhöhte ich die Dosen beider Medikamente. Das verfehlte seine Wirkung nicht: Von meinem Tourette war nun praktisch nichts mehr übrig. Ich nahm nun jeden Tag zehn Tabletten. Aber ich war froh. Meine Angst um den Beziehungsverlust zu Paula und meiner Mutter wich. Während meine Mutter froh war, wieder einigermaßen schlafen zu können und ich nun langsam aber sicher ohne Symptome zu Recht kommen musste, war Paula einfach nur froh, dass "es" vorbei war. Sie begann, ihre Diplomarbeit zu schreiben, denn auch sie studierte Sozialarbeit in Mainz. Die hohe Dosis der Präparate zeigte allerdings auch massive Nebenwirkungen. Gerade in den ersten Monaten der Einnahme war ich auch tagsüber extrem müde. Mitunter schlief ich bis zu 20 Stunden am Tag. Das Studium litt darunter ebenso wie die Beziehung. Allerdings sagte ich mir, dass ich auch einen enormen Nachholbedarf an Schlaf aus den vergangenen Jahren hatte. Von daher machte ich mir nicht so viel Sorgen.

Ein weiterer Nebeneffekt der Medikation war, dass ich ständig Appetit hatte. Außerdem änderte ich mit dem durch die Einnahme der Medikamente bedingten veränderten Energiehaushalt im Körper nicht auch gleichzeitig meine Essgewohnheiten. Hatte ich vorher jahrelang reichlich und fett essen können, ohne zuzunehmen, weil mein Körper diese Energien auch gut verwerten konnte, so war das nun aufgrund der mangelnden Bewegung ganz anders. Zusammen mit dem ständigen Appetit führte das dazu, dass ich in wenigen Monaten 15 Kilo zunahm. Ich nahm es hin, auch wenn ich natürlich nicht glücklich darüber war.

Paula hatte ihr Studium bis auf die Diplomarbeit fertig und zog wegen ihres Anerkennungsjahres nach Kassel. Sie suchte sich eine eigene Wohnung, in der ich sie oft besuchte. Aufgrund ihrer eigenen Behinderung benutzte sie mittlerweile auch einen E-Rolli für Unternehmungen außer Haus. Irgendwann in dieser Zeit starb mein Vater an Darmkrebs. Ich war eigentlich nur heilfroh, ihm nie wieder irgendwo zufällig oder absichtlich begegnen zu können oder zu müssen. Traurig war ich darüber, dass ich eigentlich nur sehr selten einen liebenden, fürsorglichen Vater erlebt hatte. Stolz war ich darauf, dass er mir das Fahrradfahren beigebracht hat. An den Tag im Kasseler Auepark kann ich mich noch heute gut erinnern. Der Rest war Missbrauch und Gewalt.

Nachdem Paula ihre Diplomarbeit noch in Mainz beendet hatte, begann ich mit meiner Arbeit, denn auch ich hatte mein Studium inzwischen soweit abgeschlossen. Nur im Autonomen Behindertenreferat des AStA an der Hochschule arbeitete ich bis dahin noch weiter. Weil ich mitbekommen hatte, welche Schwierigkeiten mir meine Missbrauchserfahrungen in Beziehungen zu Männern, aber auch vor allem zu Partnerinnen bereiteten, war für mich klar, dass ich hierzu meine Arbeit schreiben wollte. Ich nannte sie dann auch: "Langzeitfolgen sexueller Gewalt und ihre Auswirkungen auf partnerschaftliche Beziehungen." Ich führte viele Interviews mit Überlebenden und ihren PartnerInnen in ganz Deutschland durch, die ich schließlich in die Arbeit mit einbettete.

Inzwischen hatte Paula ihr Anerkennungsjahr in Kassel absolviert und wollte zurück nach Mainz. Ich musste mich entscheiden: Ziehe ich mit ihr nach Mainz oder bleibe ich in Kassel? Ich entschied mich für Paula und Mainz. Im Oktober 96 zogen wir dann um. Zum ersten Mal lebte ich mit meiner Freundin in einer eigenen Wohnung. Die Beziehung jedoch war und blieb schwierig. Paula ging es jedes Mal schlecht, wenn sich doch mal wieder ein Tic seine Bahnen brach (was eben ab und zu noch vorkam), weil sie Angst hatte, es würde wieder so schlimm werden, wie sie es zu Beginn ein Jahr lang miterlebt hatte. Während Paula im Sommer 97 eine Anstellung bei einer sozialen Einrichtung bekam, war ich noch dabei, meine Diplomarbeit fertig zu schreiben und mich auf die mündlichen Prüfungen vorzubereiten. Im Juli 97 war dann auch ich mit meinem Studium fertig. Besonders stolz war ich darauf, dass ich es trotz des schwierigen Themas, der eigenen Betroffenheit, den schwierigen Momenten in unserer Beziehung und der vielen Veränderungen in meinem Leben geschafft hatte, eine solche Arbeit zu schreiben. Ich war sehr zufrieden.

Unsere Beziehung war für uns beide weiter anstrengend. Mittlerweile fühlte auch ich mich nicht mehr wohl, sah mich aber auch nicht in der Lage, etwas Entscheidendes zu ändern. Das Tourette war insgesamt so zurückgewichen und dabei auch stabil, dass ich auf Paulas Wunsch hin den Führerschein machte. Sie wünschte sich mehr Eigenständigkeit meinerseits. Zwischenzeitlich hatte auch ich gute Kontakte zu meinem späteren Arbeitgeber in Mainz, zumal ich die MitarbeiterInnen und den Vorstand großenteils schon aus unseren Studienzeiten kannte. Ich bewarb mich auf eine Stelle. Im April 98 bestand ich dann die Führerscheinprüfung, im Mai kaufte ich mir ein Auto und im Juni begann ich meine erste Stelle in der sozialen Arbeit. Im Juli suchte ich mir meine erste eigene Wohnung, in der Hoffnung, die Beziehung noch retten zu können. Im Herbst trennten sich Paula und ich uns, was für mich schlimm aber auch gut war, fühlte ich mich doch nicht in der Lage, der Abhängigkeit, die ich ihr gegenüber spürte, zu entkommen. Insofern war ich froh über die Trennung.

Im Sommer hatte ich mich mit einer Kollegin angefreundet: Erika. Sie arbeitete seit Mai beim selben Arbeitgeber. Ein intensiver, freundschaftlicher Herbst begann. Gleichzeitig befreundeten sich auch Paula und Erika und schließlich verliebten sie sich ineinander. Für mich begann eine zweijährige Durststrecke. Paula war auch nach der Trennung für mich sehr wichtig als Ansprechpartnerin, war sie mir doch so vertraut wie sonst niemand. Und die schöne Freundschaft zu Erika bedeutete mir ebenfalls viel, da auch sie sehr persönlich war. Als sich die beiden Frauen ineinander verliebten, fühlte ich mich zurückgesetzt, alleingelassen und einsam. Mit meinem Job und einer Therapie, die ich mittlerweile in Mainz begonnen hatte, hielt ich mich wieder mal stabil. Gleichzeitig begann ich eine Peer Counseling - Ausbildung. In der fünften Woche, also kurz vor Schluss der Ausbildung, verliebte ich mich in Uschi, eine der anderen Teilnehmerinnen. Da sie sehr weit weg wohnte, sahen wir uns nur selten. Auch diese Beziehung war intensiv, aber ich empfand sie auch als schwierig. Unsere Bedürfnisse waren sehr unterschiedlich. An Silvester 2000 habe ich mich dann von ihr getrennt, nachdem ich mich zwischenzeitlich in eine Assistentin im Hause meines Arbeitgebers verliebt hatte. Aber auch diese vierte Beziehung hielt nur ein halbes Jahr. Wieder trennte ich mich, was mir in diesem Fall auch sehr gut tat.

Mit dem Ende der Peer Counseling - Ausbildung in Trebel (nahe Lüchow und Dannenberg) war ich neugierig geworden auf die dort existierende Männergruppe. Von nun an nahm ich an den Männertreffen regelmäßig teil. Nach einem Jahr fragte mich Lothar, der die Gruppe mitgegründet hatte, ob ich mir vorstellen könnte, die Gruppe weiter zu leiten. Seitdem bin ich als Leiter und Teilnehmer dabei. Inzwischen habe ich auch eine einmalige Erfahrung mit einer früheren Sexualbegleiterin gemacht, die zwar nicht nur schön, aber insgesamt doch wertvoll für mich war, weil ich jetzt auch ungefähr einschätzen kann, wie so eine Begegnung verlaufen kann. Nach dem Beginn in der Männergruppe habe ich auch zahlreiche Erfahrungen bei den Übungen mit Männern und Frauen in den gemischten Gruppen gemacht. Heute weiß ich, dass für mich die Männergruppe am intensivsten ist und dass ich die Erotikworkshops für behinderte Menschen in den gemischten Gruppen in Trebel nicht mehr so sehr brauche. Im August 2002 habe ich außerdem am ersten Trebeler Bodypainting-Workshop teilgenommen, von dem auch einige Bilder unter dem Link "Bodypainting 2002" im Henry-Miller-Haus in peercity zu sehen sind. Weitere Bilder sind seit Juni 2009 wieder hier auf der Schreibmaus unter dem Link die bildermaus lothar zu sehen.

Was mein Beziehungsleben und meine Freundschaften angeht, so kann ich sagen, dass ich seit dem Ende der vierten Beziehung zu Eva-Maria wieder solo, aber nicht unbedingt unglücklich bin. Erika ist bis heute eine gute Freundin geworden und geblieben. Sie lebt mittlerweile in Hamburg. Paula arbeitet inzwischen woanders, und wir sehen uns nur noch ziemlich selten, wenngleich uns nach wie vor eine lose aber gute Freundschaft mit einander verbindet. Irgendwie habe ich es geschafft, zu allen bisherigen Partnerinnen zumindest ein neutrales oder freundschaftliches Verhältnis zu bewahren. Nur von Eva-Maria habe ich nie wieder etwas gehört, was mich allerdings auch nicht weiter stört.

Nachdem ich bei Paula ausgezogen und in eine eigene Wohnung eingezogen bin, habe ich auch diese nach zweieinhalb Jahren wieder gewechselt. Mittlerweile habe ich schon wieder knapp fünf Jahre mit einer anderen Kollegin in einer netten Zweier-WG in Mainz gewohnt, und seitdem brauche ich Gott sei Dank auch kein Auto mehr. Das Autofahren war für mich damals zunehmend stressiger geworden, vor allem in einer Phase, in der die Tics wieder leicht zugenommen haben. Umso glücklicher bin ich heute, dass ich mich damals dafür entschieden habe, es wieder sein zu lassen. Die neue Wohnung in Mainz hat mir dies erst möglich gemacht. Seit meine Kollegin nach fast fünf Jahren berufsbedingt umziehen musste, lebe ich nun seit April 2006 mit meinem neuen Mitbewohner Stefan nach wie vor in dieser Wohnung. Und es geht mir einfach gut, denn ich fühle mich im Moment einfach sehr ausgeglichen.

Und so lebe ich im Moment ziemlich glücklich und zufrieden vor mich hin, bin ab und zu am Schreiben oder am Erweitern meiner Homepage (www.die-schreibmaus.de) und sehne mich doch das eine oder andere Mal wieder nach einer schönen Beziehung, vielleicht ja diesmal zu einem Mann, wer weiß?

ls010409