Das unsichtbare Leid

Dieser etwas betrübliche Titel meint hier nicht etwa das Tourette-Syndrom; denn das ist ja - zumindest bei mir - überwiegend sichtbar und auffällig. Nein, dieser Titel bezieht sich auf Depressionen, die tatsächlich unsichtbar sind und daher oft auch vielen Menschen, denen wir Betroffene begegnen, verborgen bleiben. Zum Glück beschränken sich meine Erfahrungen mit Depressionen auf wenige Jahre, bzw. relativ kurze Episoden. Depressionen sind aber unter Menschen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, wie auch unter Betroffenen des Tourette-Syndroms weit verbreitet und ich kann heute gar nicht genau sagen, welche Erlebnisse und Faktoren mehr Einfluss auf meine depressiven Verstimmungen und Phasen genommen haben: der Missbrauch oder das Überlebensmuster Tourette. Ich weiß nur, dass es in der Traumatologie Forscher gibt, die der These nachgehen, ob sexuelle Gewalterfahrungen in der frühen Kindheit ursächliche Auslöser für Depressionen sind.

Angst um meinen Arbeitsplatz

Meine depressiven Verstimmungen traten erstmals in meiner Jugend auf und zogen sich über einige Jahre hin bis zum Studium. Als ich mich von meinem Vater befreite, waren sie verschwunden. Zu Beginn des Jahres 2011 trat dann noch einmal eine heftige 5-wöchige Episode auf, als ich nach einer Reihe von Entlassungen einiger Kolleginnen und Kollegen um meinen Arbeitspaltz fürchtete. Seither bin ich aber wieder sehr stabil.

Depressionen bei Menschen mit Behinderungen

Der nachfolgende Dokumentarfilm wurde von Christoph Müller für das Medienprojekt Wuppertal gedreht. Er hat den Titel "Das unsichtbare Leid" und lautet im Untertitel: Depressionen bei Menschen mit Behinderungen. Portraitiert wurden neben mir noch drei weitere Personen. Diese sind in dem Zusammenschnitt hier, der knapp 19 Minuten lang ist, jedoch nicht zu sehen.

Eine Rezension

Wenn ihr vor dem Anschauen des Films eine Rezension lesen wollt, dann klickt auf den nachfolgenden Link Rezension. Dadurch springt ihr dann zur Rezension weiter unten auf dieser Seite. Für die kritische Betrachtung des Filmes danke ich Christine Schlößler und Daniela Renk.

Der Untertitel lautet: Depressionen bei Menschen mit Behinderungen

Danksagung

An dieser Stelle danke ich auch noch mal ganz herzlich dem Filmautor Christoph Müller für die Genehmigung, die Filmausschnitte, die mich betreffen, hier zeigen zu dürfen!

Wer den Film gerne im Ganzen sehen oder auch anderen Menschen zeigen möchte, kann ihn hier gegen eine Gebühr bestellen: Medienprojekt Wuppertal. Auf der DVD befindet sich auch noch Bonusmaterial in Form von zwei weiteren Portraits, die im Hauptfilm nicht enthalten sind.

Über eine Rückmeldung von Dir würde ich mich sehr freuen, gerne über mein Gästebuch oder aber über das Kontaktformular. Der Kommentar geht dann direkt an mich und ist nicht öffentlich sichtbar. Vielen Dank!

 

Eine Rezension zum Film

Der Film schildert die unterschiedlichen Lebenswelten von vier behinderten Menschen mit Depressionen. Er ermöglicht tiefe Einblicke in das Leben und den Alltag von Menschen verschiedener Altersgruppen und mit unterschiedlichen Behinderungen. Der Alltag dieser vier Menschen wird zum Teil allein, mit Assistenz und in der Familie gezeigt.

In den Interviews wird deutlich, dass die Ursachen von Depressionen bei Menschen mit Behinderungen oft auch durch gesellschaftliche Diskriminierung und Einsamkeit bedingt sind. Diese Ursachen kommen in den Alltagssequenzen des Films teilweise zu wenig zum Ausdruck. Auswirkungen aktueller Depression sind in den Sequenzen des Lebens von Christian am deutlichsten erkennbar, der z.B. trotz der Gemeinschaft innerhalb seiner Laufgruppe isoliert und verunsichert wirkt.

Die Ursachen seiner Depression, die Frank verbalisiert – Probleme und Diskriminierungen im öffentlichen Nahverkehr, Auseinandersetzungen mit verschiedenen Behörden und Kostenträgern und der Mangel an Assistenz – werden mit den Bildern aus seinem Alltag nicht unterlegt. Im Gegenteil, diese vermitteln ein anderes Bild: Die Fahrt mit dem Bus verläuft reibungslos, auch wenn der Fahrer nicht gerade freundlich auftritt, als er die Rampe ausklappt. Dargestellt wird eigentlich ein abwechslungsreiches Leben mit Assistenz: zuhause, im eigenen Garten, im Zoo, beim Waldspaziergang, auf dem Flohmarkt, etc. Nur ein Foto seiner Protestaktion in Berlin im Winter lässt ahnen, welchen Problemen er ausgesetzt ist und wie drastisch er dafür kämpfen und sich einsetzen muss, um endlich mit seinen elementaren Bedürfnissen (z.B. eine passende Wohnung zu erhalten) wahrgenommen zu werden.

Im Alltag von Christian, der mit seinem Laufsport seine Depression bekämpft, lässt sich seine Problematik von Depression und Unsicherheit gut erkennen. Dazu gehört auch sein Alleingelassen-Sein. Die Zuschauer erfahren, dass er im Haus seiner Familie lebt ("…seit 29 Jahren im Jugendzimmer..."), Mitglieder seiner Familie treten jedoch nicht auf, sie bleiben unsichtbar. Leider erfährt der Zuschauer nichts über Christian‘s familiäre Situation.

Bei der lernbehinderten Lina sind Depressionen im Film nicht erkennbar. Sie hat gute Unterstützung aus dem Elternhaus, wirkt selbstbewusst, humorvoll und durchsetzungsfähig. Lina selbst kann sich zu ihren Depressionen und Problemen vor der Kamera nicht äußern. Ihre Mutter jedoch erzählt von depressiven Phasen und großer Traurigkeit ihrer Tochter, wenn sie Grenzen und Ablehnung im Kontakt z.B. mit gleichaltrigen nichtbehinderten Jugendlichen erlebt. Die Mutter hat deshalb einen Therapieplatz für ihre Tochter gesucht. Lina ist außerdem in einem Wohnprojekt mit anderen jungen behinderten Menschen aktiv. Sie bereitet sich auf ein selbständigeres Leben vor.

Lothar berichtet sehr offen und reflektiert von den Ursachen und Auswirkungen seiner Behinderung. Die Zeiten von Depressionen in der Vergangenheit analysiert er sehr deutlich. Die Zuschauer gewinnen den Eindruck, dass er sie erfolgreich bearbeitet und überwunden hat (Verlustängste bei Arbeitsplatz und Wohnung, Reaktionen der Menschen in der Öffentlichkeit auf sein Tourette-Syndrom und die damit verbundenen Diskriminierungen).

Es bleibt zu hoffen, dass Menschen, die bisher kaum Kontakt zu Menschen mit Behinderungen hatten, der Alltag behinderter Menschen durch diesen Film näher gebracht werden kann. Wünschenswert wäre auch, dass die Zuschauer für die alltäglichen schwierigen Lebenssituationen von Menschen mit Behinderungen stärker sensibilisiert werden, selbst wenn diese in der Öffentlichkeit nicht immer sofort sichtbar sind.

Auch wenn bei einigen Protagonisten die genannten Ursachen für ihre Depressionen im Film nicht direkt gezeigt werden, gelingt es Christoph Müller auf behutsame und gleichzeitig respektvolle Art und Weise, vier sensible Portraits von Menschen zu zeichnen, die neben ihrer individuellen Behinderung auch den Umgang mit dieser seelischen Erkrankung in ihrem Leben bewältigen müssen oder mussten.

 

Mainz, den 13. April 2016

Christine Schlößler, Daniela Renk