Meine Texte zum Nachhören und Nachlesen
Ein Flirt im Jahre 2026 (die realistischere Version)
Ein Flirt im Jahre 2026 (die realistischere Version)
Ich beschloss, allein zu gehen. Heute Morgen wollte ich niemanden bei mir haben. Ich brauchte Ruhe, und die wollte ich bei einem einsamen Strandspaziergang finden. Aber es sollte alles ein bisschen anders kommen. Der Morgen war wunderbar: Die Sonne schien hell und warm, der Wind wehte leise, die Wellen schlugen unbeeindruckt an die felsige Küste. Ich ging langsam, um nachzudenken. Die Luft, ich weiß nicht, ob sie frisch und klar war, ich vermutete es nur. Eigentlich war es völlig still um mich herum. Ich hörte nur die Wellen, den Wind und die Möwen? Nein, die Möwen hörte ich nicht. Es war lange her, dass ich Möwen gehört hatte. Ich weiß nicht mehr, wie lange. Manchmal bildete ich mir ein, am Himmel eine zu sehen, aber das entpuppte sich jedes Mal als ein Trugschluss. Ja, und dann hörte ich natürlich noch das Rascheln an den Füßen und das Sauggeräusch an meiner Nasenspitze. Aber eigentlich hörte ich das schon gar nicht mehr, zumindest nicht bewusst. Es war mittlerweile so selbstverständlich geworden, dass ich es überhaupt nicht mehr beachtete. Vielleicht war das auch gut so. Es mochte mich vor Depressionen schützen.
Ich ging den schönen, sandigen Strand entlang und dachte mal wieder über den Sinn und den Werdegang des Lebens nach und fragte mich, ob ich vor dreißig Jahren auch schon über solche Fragen gegrübelt hatte. Ich war mir nicht sicher, jedoch nahm ich es an. Aber das war im Grunde müßig. Gestern war gestern, und heute war heute. "Wohin werden wir gehen?" Diese Frage blieb für mich noch immer unbeantwortet, ich wusste es nicht, und fast fürchtete ich, ich würde in der mir verbleibenden Zeit auch keine Antwort mehr darauf finden. Davor hatte ich Angst. Ich war jetzt 58 Jahre alt. Die durchschnittliche Lebenserwartung für Männer war in Europa mittlerweile auf 64 Jahre gesunken. Wie lange würde es noch gehen, mit mir, mit all den anderen? Heute Morgen schien ich nur offene Fragen zu haben. Aber war das schlecht? Nein, Fragen waren immer gut. Die Sonne stieg langsam höher und höher. Irgendwie sah sie nicht gut aus, so, als ob sie eine böse Vorahnung hätte.
Das Gras wehrte sich gegen den Wind, der stärker wurde. Als ich an meinem alten, mir in all den Jahren so lieb gewordenen, großen Felsen vorbeikam, der mich immer an einen Engel erinnerte, blickte ich auf, überflog den Küstenstreifen vor mir bis in weite Ferne, und als ich meinen Blick wieder zurückwandern ließ, ruhig und aufmerksam, sah ich sie. Sie saß auf einem alten Molenholz, ein Bein angewinkelt, das andere baumelnd, die Arme um das Knie geschlungen und betrachtete das Meer. Sie war wunderschön. Dieses Bild war wunderschön. Wie sie so dasaß, das Kleid um die Beine flatternd, einen alten Strohhut auf dem Kopf, lange, dunkle Haare, einfach zauberhaft. Sie war wohl kaum jünger als ich selbst. Ich hatte das Gefühl, mich jeden Moment in sie zu verlieben, oder war es nur dieses Bild?
Langsam ging ich auf sie zu. Jetzt sah sie mich. Als ich bis auf wenige Meter an sie herangekommen war, begrüßte ich sie: "Hallo, genießt Du auch diese wundervolle Landschaft?" Es war seit vielen Jahren üblich geworden, dass auch Erwachsene sich duzten, zumindest in Europa. "Ja, sehr", erwiderte sie, "ich liebe das Meer!" – "Ja, ich auch", meinte ich, "gerade morgens ist es hier besonders schön: Keine Menschen, kein Lärm, klarer, blauer Himmel und die Sonne weckt behutsam den Tag." – "Wie poetisch", kommentierte sie meine Worte sehnsüchtig, "bist Du Dichter?" – "Ich? Nein!", lachte ich, "aber ab und zu schreibe ich gerne Poesie." Sie nickte kurz als Zeichen, dass sie verstanden hatte und saugte weiter unbeirrt das Meer mit ihren Blicken auf. Da war etwas an ihr, das mich verrückt machte. Etwas verlegen meinte ich: "Du hast eine sehr schöne Atemmaske. Sie passt sehr gut zu Deinem Kleid!" – "Ja, das stimmt, ich habe auch sehr lange danach gesucht", sagte sie, ohne den Blick vom Wasser abzuwenden. "Woher hast Du sie?", wollte ich wissen. "Aus der NAF, eine Freundin hat sie mir mitgebracht", erzählte sie. "Der NAF?", wiederholte ich unwissend. "Der Nordamerikanischen Föderation", erklärte sie. Ja, ich erinnerte mich. In politischen Dingen war ich nicht sehr bewandert. Es interessierte mich einfach zu wenig, aber jetzt wusste ich wieder: Kanada, die USA und Alaska hatte sich vor vier Jahren zu einer politisch-ökonomischen Allianz, der Nordamerikanischen Föderation, kurz NAF, zusammengeschlossen.
"Ja, sie ist sehr schön", bestätigte ich, "wie lange hält sie?" – "Etwa zwanzig Stunden", antwortete sie. Das war lang. Meine hielt circa fünfzehn Stunden, und das nur bei gleichmäßig ruhiger Atmung. Ihre Stiefel fielen mir auf. Sie waren nicht geschützt. Ich wunderte mich. "Du trägst keine Abschirmung?", bemerkte ich und zeigte dabei auf meine verpackten Schuhe. "Nein, das ist nicht nötig, die haben eine undurchdringliche Filterschicht. Da geht nichts durch", beruhigte sie mich. Zurzeit wusste niemand so genau, was die Meere an die Küsten spülten. "Waren die teuer?", bohrte ich weiter. "Du fragst so viel, bist Du bei der ZEPP?", foppte sie mich scherzhaft. ZEPP war die Zentraleuropäische Umweltpolizei. Sie wurde ins Leben gerufen, als europäische Politiker 2008 endlich begriffen, dass Umweltzerstörung kein nationales Problem war. "Nein, nein!", wehrte ich lachend ab, "ich frage immer viel, wenn mich eine Frau unsicher macht." – "A-haa, ich mache Dich also unsicher, magst Du mich vielleicht?", forschte sie frech, und meinte weiter: "Du hast auch was, was ich nicht verachten würde, etwas, das mich durchaus anzieht." Jetzt wurde ich erst recht verlegen. Aus Angst, zu stottern schwieg ich. Sie sah mich an und lächelte. Ich lächelte zurück. Sie wirkte selbstsicher und lebenshungrig. Das machte sie sehr attraktiv, trotzdem oder vielleicht auch deshalb wusste ich nicht, wie ich mich verhalten sollte.
Leise hörte ich sie seufzen. "Bist Du allein?", wollte sie wissen. "Ja", sagte ich, "ich lebe schon länger allein. Meine Partnerin und ich haben uns vor acht Jahren getrennt. "Mir geht es ähnlich, mein Mann ist vor fünf Jahren gestorben, seitdem hatte ich auch niemanden mehr", bekannte sie ein wenig traurig und fügte noch hinzu: "Im Jahr danach sind auch noch zwei meiner Freundinnen an SLOP gestorben. Viele meiner Bekannten haben SLOP. Hast Du auch SLOP?", fragte sie nach einem kurzen Augenblick ganz direkt. "Nein", erwiderte ich unangenehm berührt, "das heißt, ich weiß es nicht sicher. Die letzte Vorsorgeuntersuchung war negativ, aber das ist mindestens zwei Jahre her." – "Ja, das ist so eine Sache, jeden von uns kann es erwischen", ergänzte sie.
SLOP war weit verbreitet. AIDS hatten wir Ende des ersten Jahrzehnts im neuen Jahrtausend besiegt, aber drei Jahre später breitete sich eine neue Seuche aus: SLOP. Sie griff ebenfalls das Immunsystem an, aber anders. SLOP war ein Virus, mit dem Du Dich infizieren konntest, wenn Du länger keinen Kontakt mit Körperflüssigkeiten anderer Menschen hattest. Das Milieu des Immunsystems blieb dann zu lange unverändert, und das ermöglichte es dem Virus, sich leicht auf bestimmte Zelltypen so einzustellen, dass sie nach kürzester Zeit komplett vernichtet wurden. Das bedeutete dann mittelfristig den Tod. Das beste Mittel dagegen war viel Sex mit wechselnden Partnerinnen oder Partnern. Die Prostitution blühte seitdem wieder wie nie zuvor. Das Wort 'Kondom' geriet in Vergessenheit. Viele suchten sich aber auch mit gemeinsam genossenen Schnupfenwochen oder Blutritualen unter Freunden zu schützen. Dennoch verbreitete sich das Virus anfangs in ungeheurem Ausmaß. Das war nicht weiter verwunderlich. Nur wenige Jahre nach AIDS sollten sich die Menschen nun genau andersherum verhalten. Es dauerte rund zehn Jahre, bis die Todeszahlen mit sinkender Tendenz stiegen. Experten schätzten bereits zwei Milliarden Infizierte. Das war ein Zehntel der Weltbevölkerung.
Ich versuchte, diese trüben Gedanken zu verscheuchen. Beide hatten wir geschwiegen. Sie sah mich an. Unter ihrer Atemmaske glaubte ich, braune Augen zu erkennen. Sie waren schön. Ich zwinkerte ihr mit dem rechten Auge zu. Wieder lächelte sie. Ihr Blick hielt mich gefangen. "Bist Du öfter hier?", wollte ich neugierig und hoffnungsvoll zugleich wissen. "Ja, durchaus", antwortete sie freudig, als habe sie bereits auf diese Frage gewartet, "allerdings meistens abends, zum Sonnenuntergang." – "Das ist schön, vielleicht sehen wir uns mal wieder. Ich würde mich sehr freuen", fuhr ich fort. "Ja, das wäre schön. Es macht Spaß, sich mit Dir zu unterhalten, ... also dann, bis bald?" Sie erhob sich von der alten Mole und rieb sich den Po. "Ja, bis bald, mach's gut", verabschiedete ich mich und zog meine Jacke mit den Händen vorne fester zu. "Ja, Du auch, tschüß!", sagte sie noch, dann drehte sie sich um und ging landeinwärts auf die Dünen zu. Einen Augenblick lang schaute ich ihr nach, dann machte ich mich ebenfalls auf den Heimweg. Einmal drehte ich mich noch um und sah, wie sie mir nachblickte. Ich winkte ihr kurz zu, sie winkte zurück. Dann stapfte ich glücklich weiter durch den trockenen Sand...
ls