Meine Texte zum Nachhören und Nachlesen
Neurotransmitternacht
Neurotransmitternacht
Neurotransmitternacht in Deutschland,
alles ruhig, alles schläft,
nur einer wacht:
Der Mond scheint hell und klar mit seinen zwei Dritteln
auf dieses Land herab,
dann, kurz nach Fünf,
die ersten Hähne krähen,
während sich die Menschen noch einmal in den Betten drehen,
noch völlig stumm,
niemand sieht sich um,
bis auf Katzen nach Mäusen der Dämmerung
zwei Stunden später
plötzlich ein lautes Bumm
ein Wecker liegt niedergestreckt am Boden
soeben hat sich ein erster Tic seinen Weg in den Tag gebahnt
und er ahnt, dass da auch gleich noch ein zweiter folgen wird,
zum Glück ist der Wecker schon unten
auch wenn er nicht geklingelt hat,
so bin ich doch hellwach,
das fängt ja gut an, höre ich mich denken
und bin heimlich froh, dass nicht mehr passiert ist,
irgendwie hatte er es auch verdient.
Dann, beim Frühstück, schmiere ich mir das gleiche Brot dreimal –
typisch Tourette, denke ich wieder
und bin amüsiert –
so, als hätte dieses Gefühl nicht sein dürfen,
reagiere ich mit einem ordentlichen Satz an Flüchen und Obszönitäten,
mein Wellensittich wundert sich,
ich mich nicht,
aber ich bin froh, dass er kein Papagei ist –
Was würden wohl die Nachbarn sagen?
Oder würden sie es nur denken?
Ich schleppe mich und meine Tics zur Arbeit,
noch im Bus muss ich an die Nachbarn denken,
ich verschlucke ein paar laut gedachte Schweinereien,
die Angst, für pervers gehalten zu werden,
sitzt doch ziemlich tief, merke ich wieder…
…die Zeit verrinnt, der Tag beginnt zu laufen,
hinterher musst Du noch einkaufen, dämmert es mir,
auf der Arbeit das Übliche:
Stress gepaart mit ruhigeren Momenten,
bis die ruhigeren Momente dann doch nachlassen,
mein Tourette quittiert das damit,
das die Ist-Werte die Soll-Grenze überschreiten, –
mein innerer Drehzahlmesser ist auf Hochtouren,
ich fühle mich unwohl und angespannt,
die Kollegen übersehen und überhören mich wohlwollend,
ich danke das mit zeitweiliger Ruhe
vor den Herbststürmen,
als ob es bei mir jemals Winter werden würde,
ich muss innerlich lachen,
der Vergleich gefällt mir,
manchmal, da komme ich mir vor,
wie der rote Fleck auf dem Jupiter:
Ein riesiger, endloser Sturm, eben nur auf Erden,
einer von drei Millionen Sturmerprobten dieser Welt…
…ein Blick auf die Uhr holt mich in die Realität zurück,
die Arbeit ist für heute geschafft,
ich bin es auch und freue mich auf abends,
noch eben was besorgen, dann heim,
unterwegs rotiert mein Kopf,
meine Arme flippen,
die Leute wundern sich und ich wundere mich darüber,
dass sich die Leute überhaupt noch wundern,
manchmal wünsche ich mir amerikanische Verhältnisse,
dann würde auch ich hier nicht mehr auffallen,
im Bus schlage ich dann mit der rechten Hand
regelmäßig leicht gegen das Fensterglas,
jetzt ist mir auch egal, ob das noch jemanden stört,…
…dann, endlich zuhause, Aufatmen,
die eigenen vier Wände sind erreicht,
Spannung fällt spürbar von mir ab,
ich bin froh, daheim zu sein,
erstmal Ablegen, dann Klamottenwechsel,
anderes Outfit, anderes Gefühl,
langsam komme ich an, lasse die Hektik des Alltags hinter mir,
meine eigene habe ich sowieso immer noch dabei,
Frischluft tut gut, denke ich und reiße als erstes die Fenster auf,
sofort bahnen sich wieder etliche obszöne Rufe ihren Weg in die Nachbarschaft,
klar, bei offenen Fenstern geht das noch besser,
dann bekommt der Vogel seine tägliche Ration,
schließlich bin ich dran,
während des Abendessens denke ich wieder:
Wie gut, dass Du keine Papagei bist, mein Freund,
ein Verrückter reicht ja eigentlich auch,
ich werde müde und mache mich bettfertig,
nach nur zwei Stunden zuhause liege ich schon wieder in der Kiste,
bei den Medikamenten ist halt nicht mehr drin, denke ich noch,
dann, ein paar letzte Tics und Laute,
während ich versuche, ruhig zu werden,
irgendwann schlafe ich selig ein,
und wieder wird es Neurotransmitternacht in Deutschland…
ls