Meine Texte zum Nachhören und Nachlesen
Gnortt, die Bäumin
Gnortt, die Bäumin
Ich sitze hier und frage mich, was sich der Baum jetzt wohl denkt, jetzt, da ich in ihm sitze und meine Gedanken zu Papier bringe. Ob er sich in seiner Ruhe gestört fühlt, sich vielleicht gar ärgert, dass ihn gleich drei dieser lästigen naseweisen Menschlinge dreist erobert haben? Eine Frechheit, sowas!
Oder ob er sich geschmeichelt fühlt, sich freut, dass ihn drei Menschenkinder besuchen, ihm ihre ganze Aufmerksamkeit schenken und sich seinem Dasein und seiner Faszination nicht entziehen können, vielleicht gar nicht entziehen wollen, seinem Glanz, seiner Ausstrahlung gar erliegen und sich von ihm davontreiben lassen wollen?
Ob er vielleicht selbst neugierig auf uns ist, so wie wir auf ihn? Ob er uns fragen mag, wer wir sind, wie wir heißen und was er uns bedeutet?
Also, Baum, oder hast Du einen Namen? Ja, wie heißt Du, wie nennt man Dich? Oder noch besser: Wie nennst Du Dich selbst? Heißt Du einfach nur Baum, oder Roland oder Elisabeth oder vielleicht Luke oder Sorab, Balbim oder Darf?
- "Ich heiße Gnortt", reißt mich eine Frauenstimme aus meinen Gedanken.
- "Was, wie, warst Du das, Heike?"
- "Was?" fragt Heike zurück.
- "Hast Du gerade Gnortt gesagt?" frage ich nochmal.
- "Nein, wieso?"
- "Ach, nur so", gebe ich zurück.
"Und Du, Gabi?" rufe ich nach oben, "...hast Du gerade gesagt, Du heißt Gnortt?"
- "Ich? Nein!" kommt es zurück, und ich frage mich, wer das eben war.
- "Na, ich!" höre ich die Stimme wieder, "ich, der Baum, ich bin Gnortt, die Bäumin."
- "Was, Du kannst sprechen?" frage ich erstaunt.
- "Alle Bäume können sprechen, aber die meisten von uns schweigen, denn niemand hört auf uns. Unsere Träume – niemand nimmt sie wahr, unsere Leiden, unser Tod, niemanden interessiert es."
- "Ihr sprecht alle, ihr leidet, weint und sterbt – wie wir?" frage ich halb neugierig, halb mitfühlend.
- "Aber ja, genau wie ihr Menschenkinder auch." Ich halte inne, denke kurz nach, dann sage ich fast schon traurig:
- "Ja, warum sollte es bei euch auch anders sein? Übrigens, Gnortt, ich bin Lothar, und die beiden anderen, das sind Heike und Gabi."
- "Lustige Namen", meint Gnortt, "so heißt bei uns niemand."
- "Das glaube ich", sage ich lachend und füge hinzu: "Bei uns heißt auch niemand so wie Du."
- "Bestimmt nicht", sagt Gnortt, "und wie ist es so als Mensch?"
- "Ooch", sage ich, "verschieden, weißt Du? Mal gut, mal schlecht, aber immer turbulent und anstrengend."
- "Aha."
- "Und bei euch?"
- "Naja, weißt Du, Lothar, wir werden geboren und stehen unser Leben lang hier, wo wir nun mal stehen, aber es gibt immer viel zu sehen und zu hören und zu fühlen."
- "Und redet ihr auch miteinander?" frage ich neugierig.
- "Ja, manchmal schon. Aber meistens unterhalten wir uns mit dem Wind, wenn er vorbeikommt, so wie jetzt gerade. Spürst Du ihn?"
- "Ja, es ist toll", sage ich und spüre, wie der Wind Gnortt und mich umweht und zerzaust.
- "Ja, das ist es", meint Gnortt, "der Wind bringt uns immer viele Neuigkeiten aus aller Welt, und wir erzählen ihm dann von uns."
- "Hey, das ist ja spannend", sage ich und merke, dass es langsam dunkel wird. "Du, Gnortt, ich fühle mich sehr wohl bei Dir, so aufgehoben und geborgen, und ich würde Dir gerne noch so viele Sachen erzählen, von uns Menschen, meine ich, aber ich glaube, wir müssen bald nach Hause."
- "Ooh, das ist schade, weil, ich mag euch drei auch, denn ihr geht nicht so achtlos an uns vorüber, weißt Du, ihr interessiert euch für uns, das finde ich schön, denn das erleben wir nicht mehr sehr oft."
- "Ja, das glaube ich Dir, aber sag mal, vielleicht darf ich Dich ja wieder besuchen kommen, und dann erzähle ich Dir noch mehr aus dem Leben der Menschlinge, ja?"
- "Au ja, da würde ich mich freuen, komm' mich mal wieder besuchen!"
- "Ja, gut, das mache ich. Also, dann bis demnächst, ne? Mach's gut, Gnortt!"
- "Ja, gut, tschüß Lothar!"
- "Tschüß!"
ls