Textkunst von Jürgen

Meine Mutter

Meine Mutter

Meine Mutter
Ja – Mutter ; strenge Mutter. Nicht Mama, liebe Mama.
Sie war das jüngste von dreizehn Kindern. Ihr Vater war ein Pferdefuhrmann.

Er trank viel und schlug dann oft Mutter und Kinder.
Heftig , sehr heftig.

Oft vertrank er am Freitag den gesamten Wochenlohn. Es gab nie genug zu essen, die Kinder mussten schon in jungen Jahren als Putzkräfte bei fremden Leuten mitarbeiten.

Wie sollte meine Mutter mir Liebe geben, wenn sie selber keine erfahren durfte? Sie tat bestimmt für mich, was sie konnte.
Doch was nützt mir dieses Wissen heute?
Erst sehr spät in ihrem Leben konnte sie sich in einen Mann verlieben und ihn dann heiraten. Leider war da ja gerade der zweite Weltkrieg, sie sah ihren Mann nur bei den spärlichen Fronturlauben.

Dann geschah das schreckliche - ihr Mann wurde vermisst gemeldet – irgendwo in Russland ging er verschütt. Nach ein paar Jahren wurde er für tot erklärt.

Nun war sie wieder alleine.
Nach einiger Zeit lernte sie einen Niederländischen Soldaten kennen, der in Stuttgart stationiert war.
Das war 1944 im Frühjahr.
Sie wusste, dass dieser Mann in Holland Frau und Kinder hatte, doch sie wollte mit ihm ihre Sehnsucht nach Liebe leben.

Nicht lange, als sie ihm mitteilte, dass sie mit mir schwanger war, ließ er sich sofort versetzen. Als sie Kontakt mit ihm aufnehmen wollte, meldete sich ein Freund von ihm, der sie warnte – es wäre sehr leicht möglich, dass sie in diesen unruhigen Kriegszeiten einen tödlichen Unfall erleiden könnte, wenn sie keine Ruhe in dieser Sache gäbe.
Aus Angst um ihr Kind gab meine Mutter nach und nannte auch später nie den Namen des Kindsvaters.

Wieder war sie alleine.

Genau zehn Tage später kam meine Mutter nach einem Fliegeralarm aus dem Bunker (das heutige Wagenburgtunnel) und von dem Haus, in dem sie gewohnt hatte, war nur noch ein Haufen Trümmer übrig.
Wenn’s regnet, dann schüttet’s.
Sie kam bei ihrer Schwester unter, in der Neuffenstraße 22. Ihre Schwester war eine sehr gläubige Frau, die gerne anderen Menschen half. Dementsprechend eng ging es in diesem Hause zu.

Bis zu achtzehn Personen lebten hier in Qualvoller Enge. Aber wenigstens nicht auf der Straße.
In ihrer Verzweiflung machte meine Mutter heimlich Versuche den Fötus (mich) abzutreiben.
Sie machte Einlaufe mit aufgelöster, heißer Kernseife in ihre Vagina, sprang in der Villa Berg von Mauern auf den harten Boden – aber es nützte nichts – ich blieb ihr erhalten. So musste ich schon vor meiner Geburt um meinen Platz in dieser Welt kämpfen.

Dass meine Mutter später immer wieder diese Geschichte ihrer Abtreibungsversuche in meiner Gegenwart allen möglichen Leuten erzählte, machte die Sache mit dem Urvertrauen für mich viel schwerer.

Meine Geburt war für meine Mutter ein traumatisches Ereignis. Da sie mich nicht wollte, ging die Geburt nur sehr langsam und außerordentlich schmerzhaft vonstatten.
Erst nach vier Tagen war meine Mutter bereit mich zu sehen – und noch ein Tag verging, bis sie mich annahm. Wie mir erzählt wurde, konnte sie mich auch nicht stillen. eine andere Wöchnerin hatte zu viel Milch, sie pumpte diese ab und ich wurde damit gefüttert. (Es war auch eine ledige Mutter, ihr Sohn wurde auch zum Alkoholiker, er trinkt immer noch).

Meine Mutter gab mich zur Aufzucht in die Obhut ihrer Schwester. die war wesentlich älter wie sie, verheiratet, sehr religiös.
Geschlechtsverkehr dient nur zur Zeugung von Kindern steht in der Bibel – ihr Mann wollte keine Kinder – also schliefen sie nie, gar nie miteinander. Ich habe sie auch nie Zärtlichkeiten austauschen sehen, obwohl ich bei ihnen im selben Bett schlief. In der Mitte, schwäbisch „Gräbele" genannt. Wohl als Katalysator.
Bei diesen Leuten dort bekam ich genug zu Essen und zu Trinken. Aber keine Emotionale Wärme und Nähe vermittelt.

Meine Mutter sah ich kaum, sie musste ja arbeiten um ihren Lebenswandel zu finanzieren. Sie ging am Wochenende immer in Tanzlokale, in der Hoffnung, doch noch der großen Liebe zu begegnen.
Ich war auch nicht gerne in ihrer Nähe, sie warf mir so oft vor, ich hätte ihr Leben zerstört, ohne mich hätte sie bestimmt noch einen Mann gefunden.
Keine guten Voraussetzungen um Glauben zu können:
- Ich habe ein Recht zu leben.
- Ich werde geliebt.
- Irgendeiner freut sich, dass es mich gibt.
- Ich bin ein wertvoller Mensch
So war es damals.
Dem Himmel sei Dank – es ist HEUTE anders.
Heute weiß ich:
- Ich habe ein Recht zu leben.
- Ich werde geliebt
- Du freust Dich, dass es mich gibt.
- Ich bin ein wertvoller Mensch

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