Textkunst von Jürgen

Meine Kindheit

Ich bin 1945 in Stuttgart geboren, meinen Vater habe ich nie kennen gelernt. Er soll ein holländischer Soldat gewesen sein, der dann in seine Heimat zurückgegangen ist.
Als ich geboren wurde, da war meine Mutter schon 40 Jahre alt. Sie war das jüngste von 13 Kindern. Ihr Vater war ein Fuhrmann und er soff auch wie ein Fuhrmann. Sie musste in einer Druckerei im Schichtdienst als Hilfsarbeiterin arbeiten. An den Wochenenden ging sie viel zum Tanzen und so kam ich schon als kleines Kind mit Gastwirtschaften in Berührung. Sehr früh merkte ich dass Menschen unter Alkoholeinfluss lockerer werden. Wochentags konnte meine Mutter sich nicht um mich kümmern, da war ich bei meiner Patin und deren Mann untergebracht. Eigentlich ist die Erinnerung an meine Kindheit fast ausschließlich mit diesen beiden Verbunden. Vom Alter her hätten sie meine Urgroßeltern sein können. Mein Patenonkel verließ schon seid Jahren sein Bett nicht mehr und die ganze Wohnung war sehr unordentlich. Die beiden waren sehr religiös und da sie keine eigenen Kinder wollten, Geschlechtsverkehr ihrer Ansicht nach nur zur Zeugung der Kinder sein sollte, hatten sie auch nie Verkehr. Ich schlief immer im "Gräbele" zwischen den beiden.
In der Kinderzeit hatte ich als uneheliches Kind, das sehr ärmlich gekleidet war, auch fast keine Spielkameraden, höchstens mal auch so ein Einzelkind wie ich selbst eines war.
Ich kann mich auch nicht erinnern, dass ich als Kind jemals in den Arm genommen oder sonst wie getröstet worden wäre.
So fühlte ich mich schon als Kind allen im Wege und völlig wertlos. Meine Mutter sagte mir auch des Öfteren, dass sie ohne mich ein besseres Leben und auch bestimmt schon einen Mann gefunden hätte.
Sie erzählte oft auch anderen, wie sie versucht hatte, mich abzutreiben. Ich wusste nicht was das bedeutet, aber ich bekam schon genau mit, dass ich eigentlich kein Recht hatte, da zu sein.
Als ich in die Schule kam, lernte meine Mutter per Annonce einen Mann kennen und lieben. Sie heirateten kurz darauf. Dieser Mann war ein höherer SS-Offizier gewesen, der gerade aus 9-jähriger Gefangenschaft zurückkam.
Zuerst freute ich mich riesig, endlich bekam ich auch einen Vater. Er ging manchmal mit uns in den Wald oder mit mir zum Schwimmen. Schwimmen und Lesen waren meine Hobbys.
Aber nach der Hochzeit war alles ganz anders.
Schon nach der Standesamtlichen Trauung war ich zu viel: Meine Eltern und die Trauzeugen gingen in ein Lokal in der Altstadt zum Essen, ich bekam eine Mark und musste draußen warten.
Es zeigte sich sehr bald, dass dieser Mann sehr eifersüchtig auf mich war, dass er unmäßig viel Alkohol trank und mich oft und hart schlug. Auch fanden keine gemeinsamen Aktivitäten mit mir und ihm mehr statt.
In der Schule lief es auch so nicht gut, keiner machte mit mir Hausaufgaben und da sich auch sonst niemand um mich kümmerte, machte ich bald auch keine Hausaufgaben mehr. Da ich keine Freunde hatte, wurde ich der Prügelknabe unserer Klasse. Fast jeden Tag nach Schulschluss wurde ich von meinen Mitschülern gejagt geschlagen und gequält. Aus diesen Erfahrungen heraus lernte ich, dass es wohl besser sei, wenn ich alleine mich von anderen Menschen absondere, denn dann konnten sie mir ja auch nicht so oft weh tun. So wurde ich wieder zum Einzelgänger. Damals entstand diese große Angst in mir, die Angst alles falsch zu machen, die Angst vor allem Neuen und jedem Menschen und dass ich für alles büßen musste, auch wenn ich gar nicht Schuld daran hatte.
Um in der Schule nicht so oft ausgelacht zu werden, ging ich an den Tagen, wo Zeichnen oder Turnen auf dem Stundenplan war, einfach nicht mehr in die Schule.
Ich kann mich nur an zwei Wochen erinnern, wo ich nicht geschwänzt habe, das war als wir im Schullandheim waren. Ich hatte schon als Kind oft den Gedanken an Selbstmord, das änderte sich erst, als ich meine Sexualität entdeckte, mir selbst etwas geben konnte, und das Leben dadurch wieder lebenswert wurde.
Ich kam schon sehr früh mit Alkohol in Kontakt, mit sieben das erste Rauscherlebnis, als mir mein Stiefvater in einer Kneipe ein Glas Weizenbier spendiert, mit zwölf der erste Vollrausch, als mir meine Eltern eine Flasche Pfefferminzlikör zu Weihnachten schenkten, die ich sofort austrank. Mir war hinterher sehr übel, aber das Gefühl des Rausches - das Gefühl keine Angst haben zu müssen - konnte ich nicht mehr vergessen.
An Alkohol zu kommen, das war sehr leicht für mich, da mein Stiefvater regelmäßig und viel trank. Ein paar Flaschen Bier mehr oder weniger im Korb, das fiel nie auf. ich kann mich noch ganz deutlich an eine Episode erinnern: Wir hatten im Garten Johannisbeersträucher, mit den geernteten Beeren setzte mein Vater in einem großen Glasballon die Johannisbeeren mit Schnaps an. Ich zapfte mir heimlich immer ein wenig ab, und damit es niemand bemerkte, füllte ich schwarzen Tee nach.
Die Enttäuschung von meinem Vater war groß, als er an Weihnachten seinen Gästen den "Selbstgemachten" anbot. Zum meinem Glück hatte er nie erfahren, warum seine Schnapsherstellung nicht geklappt hatte.
Er hätte mich sicherlich halb totgeschlagen.
Mit dreizehn bekam ich zu den Mahlzeiten schon Weinschorle zu trinken, manchmal konnte ich auch schon mal offiziell einen Schluck puren Wein ergattern. Mit vierzehn baute ich mir einen Partyraum aus, wo ich mich dann mit meinen Kumpeln mindestens einmal die Woche betrank.

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