Textkunst von jey-key
Die Verletzungen der Seele
Zunehmend brach es nun aus ihr heraus. Der schöne bunte Verband, den sie in der letzten Zeit immer dicker und fester um die schmerzenden Narben gezogen hatte, war nicht mehr bunt. Sondern er färbte sich immer mehr in ein schmutziges Grau-Rot, das an den Rändern zu einem unansehnlichen Braun zusammen trocknete.
Sie schaute auf die Verbände und verspürte plötzlich den Wunsch, sie herunter zu reißen. Sie wusste: Es würde höllisch schmerzen, doch sie wollte wissen, wie es darunter aussah. Waren die Wunden weiter abgeheilt, oder hatten sie sich erneut entzündet?
Viele hatten auf die Verbände drauf gehauen, versehentlich oder auch mit voller Absicht. Manche fassten sie auch ganz vorsichtig an, mit Ehrfurcht vor den vermeintlichen Wunden, die sich darunter befanden. Es gab auch Menschen, die ignorierten die Verbände einfach. Das war immer eine sehr komische Situation, wenn sie spürte, dass jemand auf die Verbände starrte und dieser Jemand sich dann ertappt fühlte und weiter sprach, als sei ihm nichts aufgefallen.
Sie war es nun jedenfalls endgültig leid, bunt bemalte Verbände zu tragen. Endlich Sonne, Regen und Wind auf der Haut zu fühlen, das wünschte sie sich schon so lange. Zögerlich fing sie damit an, den ersten Verband zu entfernen, es tat sehr weh, je näher sie an die Haut heran kam. Der Verband klebte fest, und es brauchte Entschlossenheit und Mut, den letzten Rest abzureißen. Doch sie schaffte es, obwohl es ihr die Tränen in die Augen trieb.
Erstaunt schaute sie auf die nun blank liegende Haut, weiß, dünn und durchschimmernd wie Pergament sah sie aus, übersät mit roten, dicken empfindlichen Narben. Kein wirklich schöner Anblick, doch sie hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass sie den Anblick aushalten könnte. An einigen Stellen war die dünne Haut noch kaputt und unverheilt, wo nun ein wenig Blut austrat und in feinen Rinnsalen die elfenbeinfarbene Haut entlang floss.
Wie hypnotisiert musste sie auf ein rotes Rinnsal blicken, ließ der Schmerz nach? Die roten Rinnsale versickerten in der bleichen, weißen Haut. Doch sie fühlte Schmerz in den anschwellenden Narben, das Blut konnte nun wieder pulsieren, wo es vorher durch den straffen Verband größtenteils abgebunden war.
Sie fuhr mit ihrer Hand vorsichtig über die Haut und fühlte die wachsenden Erhebungen der Narben. Heiß pochte das Blut darunter im Takt des Herzschlages. Der Schmerz wuchs weiter, sie hatte das Gefühl, jeden Moment könnten die angeschwollenen Narben aufbrechen, doch die durchschimmernde Haut konnte dem pulsierenden Fluss des Blutes bisher standhalten.
Große Flächen der Haut waren stark gerötet und ein kleiner Teil noch offen, alles sehr empfindlich und verletzlich... würde Sie es diesmal schaffen, diese dünne Haut der Seele ohne Verband so gut zu beschützen, dass nichts erneut kaputt ginge und eindringende Bakterien in aufgerissenen Wunden wieder eine erneute langwierige und schmerzhafte Entzündung auslösen könnten?
Erftstadt
14.10.11
© by jK