Textkunst von Akimaus
Retroperspektiv: Revisiting „Heidi“
Ich schaute mir, um dem Alltag zu entrinnen und zur Ruhe zu kommen, zwei Episoden der Kinderserie Heidi an: Episode 3, in der Heidi zum ersten Mal mit Peter die Alpen selbst besucht und die Abenddämmerung, „Das Funkeln der Berge“, wie sie es bezeichnet, welche in Rot verfärbt erscheinen, bestaunt, und Episode 45, in der Clara mit der Unterstützung von Peter und Heidi ebenfalls zum ersten Mal die Alpen, die Blumen und die dortigen Tiere erlebt.
Als Frau im Rollstuhl erinnere ich mich daran, dass ich mit der Figur der Clara rückwirkend betrachtet ein ambivalentes Verhältnis hatte. Als Kind identifizierte ich mich vorwiegend mit Heidi – dieser Lebendigkeit, der Sprunghaftigkeit, Neues zu entdecken, Sachen zu hinterfragen und dieser unbändigen spontanen Freude.
Ich war damals fünf Jahre alt, als Heidi im ZDF, später dann bei KiKA, ausgestrahlt wurde. Ich sah die Serie chronologisch und somit begleitete mich die ersten 17 Folgen ausschließlich Heidi. Damals, mit fünf Jahren, hatte ich noch Allmachtsfantasien in Bezug auf meine Eltern, und so nahm ich an, als das Setting nach Frankfurt verlagert wurde und Heidi ein Mädchen im Rollstuhl traf, dass mein Vater dies von langer Hand geplant hatte. Meine kindliche Vermutung wurde verstärkt, als es dann später darum ging, dass Clara laufen lernen wollte und ich parallel dazu jeden Tag an meiner Ballettstange meine zwei bis drei Stunden Laufübungen verrichtete. Genauso wie Clara taten mir die Füße weh, genauso wie Clara hangelte ich mich an der Stange entlang. Diese Parallelen erschienen mir damals von langer Hand geplant – ja, mein Vater müsste die Serie konzipiert haben als eine einzige Ermutigung, um mich, seine Tochter, zum Laufen zu bewegen.
Doch wie bewerte ich jetzt den Charakter der Clara, insbesondere in der Episode 45? Heidi erscheint ihrer Zeit, retrospektiv betrachtet, was die Inklusionsgedanken anbelangt, weit voraus. Dass der Großvater Clara eine Trage aus Holz baut, sodass Peter sie besser huckepack tragen kann (da sie das Gewicht von Clara gleichmäßig auf seinem Rücken verteilt und es ihm so ermöglicht, sie länger zu tragen), ist nichts anderes als revolutionär zu bewerten. Dies allein könnte ein Paradebeispiel für gelingende Inklusion darstellen – Lösungen zu suchen, um vermeintliche Barrieren zu überwinden. Schade, dass dieser Einfall nicht von Clara selbst stammte, sondern dass dieser Gedanke durch ihr nichtbehindertes Umfeld initiiert wurde. Zumindest ist der Plan geglückt und wurde so innerhalb der Serie ausgelebt und veranschaulicht.
Wieso musste Clara laufen lernen?
Clara als Figur ist wie ein Vogel im Käfig anzusehen. In Frankfurt ist sie gefangen – nicht der Rollstuhl ist das, was sie einsperrt, sondern die Wände Frankfurts und der Wohlstand ihrer Familie.
Selbst wenn sie laufen könnte, wäre sie doch Gefangene der High Society und des Regimes von
Fräulein Rottenmeier. Heidi hingegen kommt aus einer anderen Welt. Sie steckt Clara mit ihrer Vorstellung der Lebensführung an, von Freiheit und Weite, von der Clara niemals gehört hatte. Heidi passt nicht in diese Gesellschaftsform, das ist ihr und auch den anderen Figuren von Anfang an klar.
Fräulein Rottenmeier möchte Heidi in ein Korsett hineinzwängen, sie zu einem Stadtkind erziehen – nicht aus Wohlwollen für Heidi heraus, sondern um das System ihrer Ideale und Normen der damaligen Sitte ungestört weiterhin aufrechtzuerhalten.
Heidi ist das Sinnbild der Freiheit. Sie rebelliert und kämpft und beugt sich nicht den Regeln, die ihr auferlegt wurden, und letztlich kehrt sie zurück zu dem Leben, das sie immer führen wollte.
Clara, die Heidi kennengelernt hat, sehnt sich nach dieser Freiheit, nach der Natur und nach dem Bruch mit der Konvention.
Doch wieso musste Clara laufen lernen?
Denn dadurch beugt sie sich der Normgesellschaft, dem vermeintlich gesunden, schönen Idealbild. Als Kind hat es mich nie gestört, dass Clara nicht laufen kann und im Rollstuhl sitzt. Was mich irritiert hat, war die Tatsache, dass sie sich so gar nicht bewegt. Und damit meine ich: Sie könnte auch hüpfen oder sich kriechend fortbewegen – irgendetwas, das zeigt, dass sie gewillt ist, sich aus ihrem Platz zu befreien, sei es auf der Blumenwiese oder in der Hütte. Doch sie bewegt sich niemals. Der Rollstuhl wird hier als Symbol für Gefangenschaft dargestellt, etwas, dem sie entkommen möchte. Der Wunsch des Laufens entsteht durch die Erfahrung der Weite und Freiheit, indem Clara sich mit den anderen laufenden Kindern, in dem Fall Peter und Heidi, identifiziert. In ihr keimt das Bedürfnis auf, genauso spielen, toben und rennen zu wollen, sich bewegen zu wollen, wie die beiden anderen.
Aus heutiger Sicht verdirbt mir das etwas die Geschichte. Ich hätte mich gefreut, wenn Clara Mittel und Wege aufgezeigt bekommen hätte, die ein Zueigenmachen ihres Lebens als Rollstuhlnutzerin darstellen: mit ihrer Bremse bewaffnet, unerschrocken voranrollend, stark und stolz. Dann kriecht sie eben auf der Blumenwiese und bewegt sich in ihren eigenen Mustern – zumal sie vollkommen von Peter und auch von Heidi in ihrem Sosein akzeptiert wird.
Am Ende lernt Clara laufen, dennoch ist sie weiterhin in dem starren Korsett der städtischen Gesellschaft gefangen. Unter den strengen Augen von Fräulein Rottenmeier sieht man, wie sie in der finalen Episode übt, Treppen zu laufen. Der Freiheitsbegriff hat sich nur verschoben, wird aber weiterhin auf ihrem Rücken ausgetragen.
Beim Wiederansehen der Episode 45 fragte ich mich auch, welches Krankheitsbild Clara zugrunde liegt. Aus der Serie wird deutlich, dass Clara eigentlich imstande gewesen wäre, zu laufen und irgendetwas innerhalb ihrer Psyche sie daran hindert. Es gab damals eine Episode mit einem Bären und Clara steht kurzzeitig auf ihren Füßen – aus einer Angstreaktion heraus, ohne dass ihr das in dem Moment bewusst war.
Deutet man die Geschichte unter dieser Prämisse, zeigt sich, dass die Interaktion, die gemeinsamen
Erlebnisse mit Peter und Heidi, therapeutische Wirkung haben. Die Natur löst das Trauma auf, und Clara kann davon Abstand nehmen, sich davon wegbewegen. Was das Trauma ausgelöst haben könnte, wird niemals in der Serie thematisiert. Es geht eher um die Reise hin zur Auflösung.
Denn Heidi verkörpert als Figur und auch als titelgebender Charakter Lebensfreude und die Aufgewecktheit, alles erkunden und entdecken zu wollen. Sie hat dabei keine Vorannahmen. Heidi entscheidet als Kind von fünf bis acht Jahren, was ihr intuitiv guttut und was nicht. Diese Lebenseinstellung und die Umgebung der Natur der Alpen wirken heilsam auf Clara. Vielleicht ist es auch – wenn man es unter den Augen der japanischen Gesellschaft betrachtet, die Heidi für das ZDF produziert hat – ein Sinnbild zu ihrer eigenen Gesellschaftsform, in der die Natur einen Ausbruch aus dem Alltag darstellt, eine Flucht in die Weite, weg von der Arbeitswelt, weg aus der Starrheit der Städte.
Und wenn das Laufen für das Kollektiv ein Sinnbild der Freiheit darstellt, so ist es nur logisch, warum die Geschichte mit der laufenden Clara endet.
Würde man es unter diesen Aspekten deuten, so ist es für mich als Mensch mit Behinderung akzeptabel. Das Werk ist immer unter dem Duktus seiner Zeitgeschichte zu deuten.
Ich liebe Heidi als Serie für das, was sie ist – in ihrer Reinheit und Unvollkommenheit. Gleichzeitig hätte ich mir für den Charakter der Clara gewünscht, dass sie sich selbst annehmen kann, so wie sie ist. Doch dann wäre die Geschichte eine andere.
Akina Klee, 09.09.2025