Textkunst von Akimaus
Der Traum
Ich bin eine Koreanerin. Meine Haare sind schwarz und lang. Ich habe sie mir in einem Pferdeschwanz streng zurückgebunden. Mein Pony fällt mir ins Gesicht. Meine Hautfarbe ist leicht bräunlich bis ins gelbliche hinein, doch vielleicht wirkt sie nur erheblich dunkler wegen der vielen Neonlampen über mir. Ich trage einen rosafarbenen Wollpulli.
Hinter mir steht ein Arzt. Sein Alter ist zwischen 29 und 33 einzustufen. Ich sitze in einem dieser gängigen Krankenhausrollstühle.
Der Traum beginnt. Der Arzt redet permanent in einem hektischen Tonfall auf mich ein. Er schiebt mich hastig den hellgrünen, acrylfarbenen Gang hinunter. Wir kennen uns. Er wirkt auf mich auf eine Art sehr vertraut, sehr intim – vielleicht ist er mein Lover?
Er redet und gibt sich dabei sehr dominierend, doch ich merke ihm den zunehmenden Stress an, die Panik, die langsam in ihm aufsteigt, seine immer stärker werdende Anspannung, die sich in seinen Händen entlädt. Sie umfassen meine Schiebegriffe mit einem Ruck und beginnen sich förmlich in das schwarze Leder hineinzupressen.
„Wir sind gleich am Aufzug?“ - „Ja wir sind gleich am Aufzug“, versuche ich ihn zu beschwichtigen. Meine Stimme zittert. Ich vertraue ihm, doch die Anspannung, diese aufkommende Unruhe vermag nicht zu verfliegen. Die Lampen im Gang flackern. Der Fahrstuhl ist ein Lastenaufzug. Die Tür ist gräulich. Sie wirkt massiv, gleichsam aber auch schützend.
Diagonal an der Tür ist ein Banner in großen Lettern angebracht: „Aufzug außer Betrieb.“ Als meine Augen vom Schriftzug ablassen und ich gerade innerlich dabei bin, eine Frage zu formulieren, sagt er mit sachlichem Ton: „Keine Panik, der Ingenieur kommt gleich. Er wird uns bis nach unten begleiten. Wir sind hier im neunten Stock, wir müssen bis ganz nach unten in erste Etage, dann haben wir es geschafft – er kommt!“
Der Arzt beugt sich hastig über mich. Er wirkt aus meiner sitzenden Haltung heraus dreimal größer als ich. Seine Hände umgreifen immer noch die Griffe des Sanitärrollstuhls, doch wie er sich so über mich beugt, umspannt er mich regelrecht mit seiner Körpergröße. Seine gesamte Masse lastet auf meinen Schultern. Ich kann mich nicht zu ihm nach hinten wenden, doch sein Gesicht ist bereits dicht an meinem Ohr, um mir noch schnell etwas mitzuteilen. Sein Kinn ist schroff und übersät mit einem Dreitagebart. Die Stoppeln bahnen sich den Weg in meine Haut. Ich spüre nur sein Kinn, seinen sich öffnenden Mund und seinen Atem dicht an meinem Ohr, als er seine Stimme ansetzt und zu flüstern beginnt: „Und denk´ daran, was ich dir gesagt habe: Schaue nur nach vorne. Du darfst ihn Dir die Fahrt über nicht ansehen, sonst wird er es wissen.“ Seine Stimme ist selbst jetzt weiterhin kompetent und anweisend. Ich nicke, denn ich bin mir dessen bewusst, was für uns auf dem Spiel steht.
Der Ingenieur kommt, begrüßt den Arzt beiläufig mit einem Blick und steckt den Schlüssel in das Schlüsselloch des Lastenaufzugs. Mit einem Quietschen öffnen sich die schweren bleiernen Türen. Der Arzt schiebt mich hinein. Der Ingenieur folgt uns. Die Türen schließen sich mit einem lauten Knallgeräusch, und der Fahrstuhl setzt sich grobmotorisch in Bewegung, stockend. In der Innenseite des Aufzugs sehe ich durch ein Milchglasfenster mit netzartigen Verzierungen die einzelnen Stockwerke an uns vorbeiziehen. “Gleich haben wir es geschafft“, sage ich mir innerlich immer und immer wieder wie ein Stoßgebet auf. Im zweiten Stockwerk sehe ich durch das Milchglasfenster zwei Silhouetten. Es sind junge, zierliche Frauen. Ihre nackten Körper verschwimmen durch das Glas. Sie haben Sex. Ich sehe sie. Der Arzt beugt sich wieder dicht über mich, so wie er es vorhin getan hatte. Ich spüre wieder seine feinen Bartstoppeln und wie sein Mund sich langsam zu einem spitzen Lächeln verformt. Seine Stimme wirkt diesmal rau und verbraucht und dennoch herausfordernd: „Na, hast du so etwas auch schon mal gemacht?“ Ich zucke bei dieser ungewohnten Fragestellung zusammen und verneine vehement mit einem Kopfschütteln.
„Wir sind da“, reißt mich die Stimme des Ingenieurs aus meinem Gedanken. Die Türen des Lastenaufzugs öffnen sich. Der Arzt dreht meinen Stuhl Richtung Ausgang, um mich hinauszufahren. Dabei entgleitet mir der Blick. Der Ingenieur ist in einen schwarzen langen Mantel gekleidet, der ihm bis zu den Schuhen reicht. Seine Fingerkuppen sind schwarz gefärbt. Sein Gesicht sehe ich jedoch nicht, denn der Arzt schiebt mich bereits schnellen Schrittes vorwärts. Ein Gefühl der Erleichterung macht sich in mir breit. Wir haben es schließlich bis hierher geschafft.
Der Flur in diesem Gang ist weiterhin in hellgrünen Acryltönen gehalten. Die Lampen an der Decke flackern auch hier auf und ab. Alles ist verlassen, dunkel, leer. Die Schritte des Arztes quietschen auf dem Boden, als wir heraustreten. Sie werden schneller. Ich merke, dass sich auch der Ingenieur aus dem Fahrstuhl begibt. „Wir sind doch sicher?“ gurkst meine Panik erfüllte Stimme. Doch diesmal spüre ich kein stoppelbärtiges Kinn an meinem Ohr. Keine Antwort. Stattdessen nur das laute Quietschen von laufenden Schuhen in der Stille, die dicht von anderen Schritten verfolgt werden. Er verfolgt uns. Er hetzt uns! Der Arzt lenkt in einen Seitengang ein. Der Geräusche der Schritte des Arztes und die des Ingenieurs verdichten sich mehr und mehr, als sie plötzlich zu rennen beginnen. Ich spüre, wie die Räder meines Rollstuhls bei der Schnelligkeit der Fahrt zu rotieren anfangen. Ich habe keine Kontrolle. Ich kann nur hoffen, dass der Arzt mich mit all seiner Kraft beschützt. Der Angreifer ist uns dichter und dichter auf den Fersen. Ich kann aus meinem Augenwinkel eine nach vorne schnellende Hand mit schwarzen Fingerkuppen erkennen. Noch kann seine Hand nicht nach uns greifen. Nach mir!? Dann verstummen die quietschenden Schritte allmählich und werden von dem dröhnenden Pochen meines in Angst schlagenden Herzens übertönt.
Ich entreiße mich bewusst aus dem Traum, um der Situation zu entfliehen. Denn ich weiß: Es passiert etwas schreckliches, würde ich es nicht tun...
(Nacht zum 01.11.2014)
Akina