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Meine Bärentochter
Meine Bärentochter

Sie ist noch relativ jung
und schon so erfahren:
voller Lebenserfahrungen,
sowohl guten als auch schlechten,
zum Teil sehr schlechten.
Sie kam als Frühchen auf die Welt,
mit einer Spastik und einer Sehbehinderung.
Seitdem rollt sie vergnügt durchs Leben:
Ihre vier Räder ersetzen ihre Beine.
Auf dem einen Auge
nach einer missglückten OP blind,
muss sie sich mit etwa 30% Sehrest
auf dem anderen Auge begnügen,
in einer Welt, die vor allem
visuell orientiert ist:
kein leichter Start ins Leben.
Ihre Eltern sind beide musisch veranlagt
und daher Musiklehrer.
Ihr Vater ist extrem narzisstisch
und schlägt sie mitunter,
wenn er manchmal jähzornig wird.
Ihre Mutter ist hilflos
und unabhängig von ihrem Mann.
Überängstlich und verunsichert
kann sie ihre Tochter
bis heute nicht loslassen.
Aufgezwungene Assistenz
im Kindes- und Jugendalter
traumatisieren sie massiv
und fördern nur ihre Unselbstständigkeit.
Von den Klassenkameraden,
einigen Assistenten und Lehrern
wird sie jahrelang gemobbt.
Das Trauma wächst sich weiter aus.
Sie wächst ohne Freunde auf.
Erste Beziehungen zu anderen Frauen
zeigen ihr ihre lesbische Seite.
So beginnt sie, Sozialarbeit zu studieren.
Einsam und alleine
zieht sie ihr Studium durch,
fast ohne Kontakte zu den Kommilitonen.
So lerne ich kennen.
Sie ist neugierig, direkt, offen.
Ihre Attraktivität hat ihr sicher
manchen Weg geebnet.
Gesunde Kontakte
und Erfahrungen mit Gleichaltrigen
sind ihr immer verwehrt geblieben.
Sie ist sehr klug und einfühlsam,
hat eine stark ausgeprägte
wissenschaftliche Ader
und einen großen Forscherdrang
und Wissensdurst.
Ab und zu wirkt sie sehr naiv,
was Ihre Menschenkenntnis angeht;
hat sie doch in Ihrem bisherigen Leben
überwiegend schlechte Erfahrungen
mit Menschen
und menschlichen Beziehungen gemacht.
Wenn sie sich in die Enge getrieben fühlt,
kann sie um sich schlagen,
wie ein verletztes Tier,
ohne Rücksicht auf Verluste.
Sie kann dich angreifen und seelisch verletzen,
dass dir Hören und Sehen vergeht.
Ein anderes Mal ist sie nett und zuvorkommend,
lacht mit dir und zeichnet dir ein Anime.
Sie ist kunterbunt, ultralebendig
und manchmal auch anstrengend,
redet an einer Tour und kommt nicht zur Ruhe.
Sie lebt ihre Gefühle in extremen,
die positiven wie die negativen,
und das Ganze ohne Borderline-Störung:
himmelhochjauchzend oder zu Tode betrübt.
Das war in den vergangenen zehn Jahren.
Oft habe ich überlegt,
ob ich unsere Freundschaft wieder kappen soll…
Doch ich habe mich immer wieder
für dich entschieden.
Du hast dich in den letzten zehn Jahren
so sehr weiterentwickelt;
das finde ich unglaublich!
Du bist ruhiger und reifer geworden,
hast dich von deinen Eltern abgenabelt
und wohnst mit einer Freundin
in einer eigenen WG.
Du hast dein Studium beendet,
deinen Master gemacht
und arbeitest seit fünf Jahren
in der Vermittlung
arbeitsloser Erwachsener.
Du hast Freundinnen
und Freunde gefunden
und deine Kontakte
in die Queer-Szene intensiviert
und ausgeweitet.
Du bist erwachsen geworden,
gelassener und ruhst
sehr viel mehr in dir.
Du hast spät aber begeistert
mit Deinem Rolli kippeln gelernt
und akzeptierst mittlerweile
deine Sehbehinderung.
Ich bin froh, dich zu kennen
und glücklich über deinen Lebensweg
der letzten zehn Jahre.
Aber ich bin nicht nur stolz auf dich;
ich bin auch stolz auf mich:
Ich habe immer an dich geglaubt
und von Anfang an gespürt,
dass du deinen Weg gehen wirst;
nicht ohne Hilfe und nicht ohne Steine
und ohne zu stolpern,
aber du wirst ihn gehen.
Und ich durfte dich auf deinem Weg begleiten
und für dich da sein.
Vom Alter her könnte ich dein Vater sein,
und du meine Tochter.
Und tatsächlich empfinde ich manchmal
väterliche und fürsorgliche Gefühle für dich.
Wir haben Höhen und Tiefen erlebt,
sind durch glückliche
und auch schwere Momente gegangen,
wie eine kleine Familie
Und das, was du mir gestern Abend
gesagt und anvertraut hast,
war ein absolutes Highlight für mich!
Danke, dass es dich gibt.
Bleib so wie du bist,
denn du bist goldrichtig!
Und als dein Papa-Bär sage ich dir:
Akina, ich habe dich furchtbar lieb!
Danke, dass ich dich begleiten darf,
meine Bärentochter…
ls