Textkunst von Akimaus
Auf der Suche nach dem verlorenen Groschen oder:
Die Geschichte vom schimmeligen Brotlaib
Eines stürmischen Abends eilte ich verschwitzt zur Haustür herein. Es war ein schöner Sommertag gewesen, und nun gesellte sich noch der Regen hinzu, und die Hitze des Tages begann, sich allmählich herunter zu kühlen, um der Welt ihre verdiente Abkühlung zu verschaffen. Ich lebte seit Jahren in einer kleinen Wohnung. Die Mieten waren in dieser Stadt vergleichsweise teuer, und als Schriftsteller ist es schwierig, sich in dieser Zeit mit dem Schreiben von Memoiren und Poesie über Wasser zu halten. Schon als kleiner Junge verschlug es mich in andere fremde Welten. Als Kind träumte ich davon, Pirat auf hoher See zu werden und mit dem Schiff hinaus zu fahren ins Blaue und hohe, stürmische Wellen zu erklimmen. Ich wollte schwimmen weit bis hinab zu dem Meeresboden, um dort Schätze zu heben: Goldjuwelen, Diamanten und Kupfer-Groschen, die noch in der finstersten Dunkelheit ihren Glanz aussandten. In anderen Geschichten zog es mich wiederum weit, weit hoch über die Wolken. Ich wollte gemeinsam mit den Adlern fliegen zu weit entfernten Orten, die kein Mensch je zuvor gesehen hatte. Auch Astronaut oder Drachenbezwinger kam mir ab und an in den Sinn. Ich hatte schon eine recht lebhafte Fantasie damals. In der Schule schimpften mich die Lehrer aus. Sie sagten, ich wäre ein Taugenichts, der nichts Besseres tue, als in den Tag hinein zu träumen. Mich reizten eher ohnehin die musischen Fächer. In der siebten Klasse lernte ich das Geigespielen und ich fing an, meine Geschichten aufzuschreiben. Erstmal nur für mich – nur so zum Spaß – irgendwann dann auch für andere. Und so entstand allmählich mein Berufswunsch. Heute, mit 22 Jahren, lebe ich weder gut noch schlecht davon. Ich komme schon irgendwie über die Runden und mogel mich so halbwegs durch mein Leben.
Inspirationen finde ich dabei überall: Das was ich sehe, schreibe ich auf. Meine letzte Abhandlung schrieb ich über einen verschimmelten Brotlaib, der schon seit mehreren Wochen bei mir oben im Wandschrank lag und eine angebissene Stelle aufwies. Die Bissspur zeichnete sich sehr schön ab, und mir gefiel die Textur des Brotlaibes im Allgemeinen: Das Brot hatte sich über die Wochen des Schimmelns hinweg sehr verändert. Es wurde weicher, ja irgendwie fast schon mehliger. Einzelne Brotkrumen fielen davon ab. Ich hob sie sorgsam auf und begann, sie zwischen meinen Fingerkuppen hin und her zu reiben. Ich mochte dieses Gefühl, wie sie allmählich zu kleinen Bröseln wurden und sich zwischen meinen Fingern langsam zersetzten.
Auch beobachtete ich mit Sorgfalt, dass sich langsam wandelnde Farbenspiel. Als das Brot noch frisch war, war es dunkelbraun – ganz rustikal. Der Geruch des Ofens, in dem es einst gebacken wurde, haftete noch an ihm und stieg mir mit jedem Atemzug in die Nase. Ich hatte es mir für einen besonderen Anlass gekauft. Eine Jugendfreundin hatte sich unerwartet angekündigt und ich wartete sehnlichst auf ihren Besuch. Doch vertröstete sie mich immer und immer wieder, und der warme, frische Geruch des Brotes verflüchtigte sich über die Tage. Er wurde weniger und weniger, bis man ihn kaum noch wahrnahm. So stand der Laib da: Vergessen im Wandschrank. Das Braun, dass das Brot zierte, bekam viele kleine weiße Punkte, die sich zu verdichten begannen. Pilze begannen auf ihm zu wachsen und die Sporen verbreiteten sich unaufhörlich wie Pocken. Zu den weißen Punkten gesellten sich nach einer Weile grüne und blaue hinzu. Richtig schön anzusehen war er nach einiger Zeit! Das Brot wurde Nährboden für viele Bakterien und Kleinstlebewesen. Ich fing damit an, die sich ausbreitende Kultur zu beobachten und mögliche Veränderung akribisch zu datieren. Es vertrieb mir die Zeit und den Kummer, über die mich verschmähende Freundin. So schrieb ich tagein und tagaus immer abends, bis ich irgendwann eine ganze Abhandlung zusammengeschrieben hatte. Diese verkaufte sich leider, so muss ich in fairer Weise gestehen, nur mäßig. Immerhin bekam ich dafür eine ganze Monatsmiete beisammen und genug Geld, um mir wieder aufs Neue einen frischen Laib Brot vom Bäcker um die Ecke zu besorgen.
Und auch dieses stand bald schon wieder oben im Wandschrank und wartete: Wartete darauf, von meiner Jugendliebe zum Mund geführt und verspeist zu werden. Doch es war schon wieder zehn nach drei, und sie war immer noch nicht da. Hastig trat ich mit meinem Sonntagsschuhwerk auf den Holzdielen vom Eingangsbereich auf und ab: Dabei war es Montag gewesen – kein Sonntag. Ich machte mir die Mühe, und ließ sie vom Lausbuben des Nachbarn Gerd neu aufpolieren. Dieser bestellte zuweilen immer die Felder im Hochsommer und anstelle, dass sein Sohn mit anpackte, vertrieb dieser sich seine Zeit mit Streichen und Firlefanz. Ich bat ihn also, meine Schuhe zu reinigen. Man sollte den schwarzen Glanz des Lackes wieder sehen können. Als Lohn bot ich ihm einen Kupfergroschen an. Eben genau so einen, wie der aus meinen Piratenabenteuern, als ich noch ein Kind war. Da begannen seine Augen vor Freude zu funkeln, und zugleich machte er sich ans Werk und schrubbte und putzte. Aber sein Lohn bekam er dennoch nicht. Ich suchte und suchte vergebens in meinen Taschen, doch der so hoch gepriesene Groschen blieb verschwunden.
Ich hörte das Ticken der Uhr. Die Zeit verging, und die Minuten kamen mir wie Stunden vor. Meine Jugendfreundin und ich: Wie lange hatten wir uns schon nicht mehr gesehen? Plötzlich, als ich es schon gar nicht mehr erwartet hatte, klopfte es ganz zaghaft an der Tür. Doch wider Erwarten stand da nicht sie, sondern ein großgebauter junger Mann vor mir. Meine Jugendliebe hatte in der Zwischenzeit geheiratet. Mein Herz zerbrach in viele kleine Bruchstücke, und sie zerstreuten sich zu ihren Füßen. Meine Knie wurden weich, und ich fiel vor dem jungen Herrn zu Boden. Plötzlich fand eine zarte, weiche Hand die Meinige. Ich schaute auf, und treue, mir vertraute Augen, begegneten mir: Tief braun und warm – wie dieser eine Groschen, ihr Blick, so vertraut und fremd zugleich. Dieser Moment gehörte nur uns beiden. Sie trug eine Haarhaube und ein schönes fliederfarbenes Kleid mit floralem Muster. Gerne hätte ich sie mit meinen Blicken festgehalten und für immer gebannt, doch waren wir nicht allein, und so sehr mein Herz auch sprang und tanzte: Ich stand unter den Blicken eines anderen Mannes, und dieses Gefühl grub sich in meine Magenkuhle und nistete sich ein, wie der schwarze Tod.
„Albert, Albert!“, hörte ich es aus der tiefen Stille meiner Seele zu meinem Ohr dringen. Ihre liebreizende Stimme ließ mich in das Hier und Jetzt zurückkehren: "Du, mein Lieber, lang´ ist´s her. Ich freue mich so, Dich wiederzusehen." Ihre feingliedrige Hand holte hastig ein besticktes Seidentuch hervor. Darin befand sich ein einziger, bronzefarbener Taler. Ich musste wohl wahrlich verwundert dreingeblickt haben, denn sie fügte erklärend bei: „Weißt du noch, als wir gemeinsam als Kinder zu Schule gingen? Ich war stets allein. Meine Mutter war eine arme Witwenfrau und wir hatten nicht genug Geld. Jeden Tag trug ich darum dasselbe Kleid und dieselben durchgelaufenen Schuhe. Die Mädchen meideten mich deshalb. Einmal hatte ich nur einen zwei Wochen alten, verschimmelten Laib Brot dabei. Ich aß die Stücke widerwillig und weinte bitterlich aus vollem Halse. Doch du kamst angelaufen – drüben von den anderen Jungen – und schenktest mir einen alten, abgegriffenen Groschen. Du sagtest, ich müsse nur tüchtig sein und hart arbeiten, um den Groschen zu mehren. Das war das erste Mal, dass wir miteinander sprachen und seither warst du es, der mir Freude und ein Lächeln ins Gesicht zauberte. Deine Geschichten brachten mich schon damals in fremde Länder, weg von der Armut daheim. Ich hatte das Gefühl, alles sein und schaffen zu können. Deine Erzählungen gaben mir ausreichend Kraft, um weiter zu machen. Und schau mich jetzt an, was aus mir geworden ist: Einen stolzen Mann habe ich, und das erste Kind kommt auch schon bald.“
Als ich das hörte, stieg mir das Wasser in die Augen. Dieses Kind hätte das Meinige sein können. Alles hätte sie werden können, doch sie entschied sich für dieses einfache, gewöhnliche Leben einer Hausfrau, an der Seite ihres braven Gatten. Damals war sie anders als die anderen Mädchen: Tüchtig und fleißig kam sie mir vor. Sie hatte Interesse an der Welt und obendrein noch Geschick für Bildung und Mathematik. Und was ist aus ihr geworden? Verkommen zu diesem einfachen Gemüt, ohne Verstand und Witz. Ein Anhang ihres Mannes! Ich weinte um mein vertagtes Liebesglück, aber ich weinte vor allem um sie selbst. Da fuhr sie fort: “Aber das wichtigste ist…“, setzte sie an, „…das wichtigste ist: Durch Dich habe ich meine Liebe für die Literatur entdeckt. Vielerlei sachkundige Bücher habe ich in meinem Leben gelesen und andere Sprachen erlernt. Dieses Wissen gebe ich nun an andere weiter. Immer habe ich an Dich gedacht. Nie habe ich Dich jemals vergessen. Nicht mal für einen einzigen Tag.“ Ihre Hand fand wieder den Weg zu mir, und behutsam strich sie mir übers Haar. Meine Lippen formten ein zaghaftes Lächeln. „Albert“, erhob sie ihre Stimme und fuhr aufs Neue fort: „Bitte nimm‘ diesen Groschen an Dich. Nun habe ich genug Geld und brauche ihn nicht mehr. Er war ein Glücksbringer und ein treuer Begleiter.“ Ihr Blick tangierte mich fest und entschlossen. „Da nimm ihn nur, auf dass er Dir gleichviel Glück bringen mag.“ Der Taler wechselte den Besitzer. Noch immer war er abgegriffen und alt, aber er war zwölf Jahre lang an ihrer Seite. Die Wärme ihrer Hand lag noch immer auf ihm und ich küsste und liebkoste seine Textur. Nun trat auch der großgewachsene Ehemann, meiner Jugendfreundin an mich heran. Er streckte mir seine Hand entgegen. Eine große, prankenartige Hand war das. Aber wie ich so meine Hand in seine lag, spürte ich, wie sorgsam, warm und liebevoll sie die Meinige freudig in Empfang nahm. Fast schon wie alte Freunde, die sich nun endlich wieder begegneten. „Achten Sie gut auf das liebste Stück meiner Frau.“ Seine Stimme war sanft, ganz anders zu seinem äußeren Erscheinungsbild: „Sie ist das Wertvollste, das mir in meinem Leben anvertraut wurde. Und dieser kleine Groschen, dieser Groschen, ist ihr das Wertvollste.“
In diesem Moment brach es aus mir heraus. Alles fiel von mir ab, und ich weinte bitterlich. Beide nahmen sich meiner schützend an. So viel Versöhnung und Liebe zusammengepfercht auf engsten Raum: Der Eingangsbereich, in dem wir uns noch immer befanden, wurde zur Heimat meiner Seele. Nach einiger Zeit, in der wir so verharrten, ohne etwas zu sagen, erhoben wir uns und traten an den Esstisch heran. Der Geruch des neuen Brotlaibes erfüllte den Raum und legte sich wie ein Zauber um uns. Den Groschen aber ließ ich ganz sachte und unbemerkt von den Blicken der anderen in meine Hosentasche gleiten. Ich wusste genau, welcher kleine Lausbube ihn längst und begierig erwartete. Ich lachte bei diesem Gedanken still in mich hinein.
Und so wechselte auch dieser Groschen wieder den Besitzer, so, wie das schon unzählige Taler bereits zuvor getan hatten und irgendwann einmal alle Geldstücke tun. Vielleicht ist es eben genau dieser eine bronzefarbene Groschen, der in meinen kindlichen Gedanken aus der Tiefsee stammte, der ihm Glück spenden und ihn begleiten wird auf seinem Lebensweg.
Und wer weiß, welchen Groschen ihr, die ihr gerade so beherzt am Lesen seid, irgendwann einmal in den Händen halten werdet? Auf das dieser euch dann genauso viel Glück bringen werde. Möget Ihr eure Ziele im Leben erreichen und nie aufgeben, an euren Träumen festzuhalten. Das wünsche ich mir von Herzen. Eins noch: Wenn ihr ein verschimmeltes Stück Brot bei euch habt, schmeißt es nicht direkt weg. Schaut es euch an. Beobachtet seine Maserung und erfreut euch an dem sich darbietenden Farbenspiel. Denn es sind die kleinen Dinge im Leben, die von Bedeutung sind. Also schaut ruhig genauer hin.
Akina, 18.08.2019