...weil das für mich wie Nachhausekommen ist...

Foto: Evelyn in einem lila Hemd mit ihrem unwiderstehlichen Lächeln vor meinem gelben Sofa.
Evelyn lächelt in die Kamera

Mein bester Freund Lothar und sein Tourette

Kennengelernt haben wir uns 1998 beim 5. Mai, dem europaweiten Protesttag zur Gleichstellung behinderter Menschen in Mainz, den Du damals organisiert hast. Vorgestellt wurdest Du mir als Freund von Petra.

Im nächsten Monat wurdest Du dann mein Kollege im ZsL Mainz. Von da an sahen wir uns täglich. Wir haben zusammen die Mittagspausen verbracht im… wie hieß es noch? Na, egal. Du weißt bestimmt noch, wo wir immer gegessen haben und du mir geholfen hast, meinen Teller leerzuessen.

Nach einem Abend mit der Band Lyra zur Einweihung des Projekts KOBRA hast Du mir erzählt, dass Du auch schreibst und mir Deine Texte gezeigt, die abgeheftet in zwei dicken Ordnern waren.

Ich glaube, ich habe sie alle gelesen und war sehr beeindruckt. Über unsere Behinderungen haben wir uns in dieser Zeit sehr oft ausgetauscht. Auch Texte haben wir gemeinsam, bzw. gleichzeitig geschrieben.

Ich hatte noch nie vom Tourette-Syndrom gehört und war sehr interessiert, vor allem weil Deine Behinderung ja nicht immer sichtbar ist.

Ich habe Dich kennengelernt, als Du schon Medikamente genommen hast. Im Nachhinein bin ich froh, dass ich Dich mit Medikamenten kennengelernt habe, denn ich bin mir sicher, dass ich Angst vor Dir gehabt hätte, wenn ich Deine Tics ungefiltert mitbekommen hätte. Die Erzählungen von Dir, Petra und Deiner Mutter, wie es war, als Du noch keine Medikamente eingenommen hast, sind für mich unvorstellbar.

Ich kann mich nicht erinnern, wann ich die Tics das erste Mal wahrgenommen habe. Ich glaube, die Grimassen waren es und Deine Berührungen im Flur vom Malakoff. Die Vokaltics haben mich erschreckt und tun es auch heute noch, wenn sie sehr laut sind.

Foto: Ein Portrait von Evelyn in ihrem Rolli in meinem Snoozleraum. Sie hat ihre Arme vor dem Körper verschränkt.
Evelyn im Snoozleraum

Ich kann mich an eine sehr bewegende Szene erinnern, als Du die ganze Nacht Deine Sehne am Handrücken gedrückt hast und erst am nächsten Morgen bei uns angerufen hast und vorbei gekommen bist. Mich hat das sehr erschreckt, weil Deine Hand wirklich eine blutige Druckstelle hatte. Du hältst wirklich viel aus! Auch dieser Zwang ist für mich unvorstellbar, wie Du immer wieder eine Handlung ausüben musst und Dir dabei selber schadest. Ich spüre Deine und meine eigene Hilflosigkeit noch heute, wenn ich daran denke.

Jetzt kennen wir uns schon 17 Jahre und leben davon 13 Jahre fast 600 km entfernt voneinander. Obwohl wir keinen Alltag mehr miteinander erleben, ist doch zumindest in diesem Jahr unsere Freundschaft wieder sehr lebendig. Davor hatten wir ein paar Jahre Pause.

Ich glaube, dass die Basis unserer heutigen Freundschaft in den späten 90ern gelegt wurde, als wir sehr viel Alltag miteinander gelebt haben. Wir haben zusammen gearbeitet und Du hast in der ersten Zeit auch sehr oft bei mir übernachtet. Ich hatte nie das Gefühl, Dich als Freund zu verlieren. Das ist wohl das vorherrschende Gefühl seit dieser Zeit: Lothar verliere ich nicht.

Ich bin zwar nur noch selten in Mainz, aber wenn, dann übernachte ich sehr gerne bei Dir, weil das für mich wie Nachhausekommen ist.

Evelyn, Hamburg, 24.05.2015

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