Meine Texte zum Nachhören und Nachlesen

Vegetarisch

Vegetarisch

Hier lese ich den Text "Vegetarisch" vor.

Vegetarisch

Elf Menschen wuseln durch den Raum – finden ihren Platz.
Elf Menschen, elf mit "e", "e" wie Eintracht.
Sie werden freundlich begrüßt, willkommen geheißen,
lassen sich gerne begrüßen, begrüßen und beräuchern,
das Räucherritual als Empfangs- und Reinigungszeremonie – wie schön!
Der Raum ist wundervoll hergerichtet:
Tücher an den Wänden, Kerzen auf den Tischen und am Boden,
es ist wohlig warm, ein schönes Tuch in der Mitte,
in seiner Mitte wiederum ein bunter Blumenstrauß in einer schönen Vase.
Symbole für Männlichkeit und Weiblichkeit säumen den Strauß,
Blüten, Steine, eine große Kugel,
sinnliche Accessoires bilden das Zentrum dieses mystischen Ortes.
Als jeder seinen Platz gefunden hat, stimmen wir uns ein
mit den Klängen des Didgeridoos:
Es tönt und tutet, kraucht und faucht,
kurze Pausen lassen neue Klangphantasien erahnen.
Diese folgen meiner Ahnung und geben mir ganz plötzlich
ein großes Glücksgefühl, eine große, innere Zufriedenheit.
Und ich weiß: Hier bin ich richtig!
Ich spüre meine Bereitschaft, mich auf die kommenden Stunden einzulassen.

Nach dieser Séance aus magischen Tönen öffne ich kurz die Augen,
um sie erneut zu schließen, erneut in den Genuss seltener Klänge zu gelangen.
Diesmal sind es Klangschalen, die meine Ohren erfreuen und bezaubern,
wie der Anblick eines geschmückten Weihnachtsbaumes Kinderherzen
höher schlagen lässt.
Auch mein Herz hüpft vor Freude, als die großen, schweren Schalen
hinter meinem Kopf von einem Ohr zum anderen wandern
und mich erschaudern lassen. Ich habe das Gefühl, die anderen bekommen
ebenso wenig genug, wie ich selbst. Immer neue Klänge durchschütteln und
durchströmen mich, ich fühle mich wie ein überdimensionaler Klangkörper,
wie ein lebendiges Instrument, dessen Saiten mal mehr, mal weniger stark
angezupft werden.
Ich spüre den Boden beben und bin dankbar, dass ich Füße habe,
die diese Vibrationen empfinden und in meinen Körper weiterleiten können.
Ich fühle mich einmal mehr geerdet, bodenstämmig und bodenständig.

Dann bekomme ich Lust, selber Töne entstehen zu lassen,
nicht meine Tourette'schen Brummtöne, die ich immer wieder leise
von mir gebe, als wolle ich mich selber erden, und als dürfe sie
niemand außer mir hören, nein, sondern verschiedenen Klänge
und Schwingungen, von denen ich das Gefühl habe, dass sie schon immer
in mir sind.
Ich nehme eine erste Klangschale und probiere mich an ihr aus.
Zaghaft und zögernd lasse ich sie erklingen und vibrieren.
Das Gefühl durchströmt mich, ist wohlig und warm.
Verschiedene Schalen erzeugen verschiedene Töne,
sprechen mich unterschiedlich stark an. Klangwelten, die mich mitnehmen
in eine Welt der Schwingungen und Wellen. Ich tauche ein,
nehme ein Wellenbad der anderen Art, der akustischen Art.

Dann, nach einiger Zeit, lege ich mich hin, bette mich auf ein Lager
und schließe wieder die Augen.
Nach und nach werden verschiedene große Schalen auf meinen Körper gelegt,
auf mein Geschlecht, meine Brust, und nacheinander bespielt.
Wieder durchströmen mich die Vibrationen und erzeugen ein Glücksgefühl,
als ließe ich mich von einem nie enden wollenden Strom davontreiben.
Mein Selbstbild sieht mich glücklich und zufrieden, freut sich über diese neue,
so fühlbare Erfahrung. Mein Spiegelbild sagt mir was anderes:

Es zeigt mir den kleinen verletzlichen Lothar, wie er mit zwei, drei Jahren
von seinem Papa vergewaltigt wird. Der kleine zarte Körper wird
in den Mund und in den Arsch gevögelt.
"Wie hat er das nur geschafft?", denke ich immer wieder.
"Wie konnte er das nur tun? Ich war doch noch so klein!", denke ich
und merke wieder, wie wenig ich das nachvollziehen kann.
Mein Körper schreit, er schreit vor Schmerzen, und ich verstehe,
warum mein Tourette mich noch heute zu kleinen, kurzen aber heftigen
Schmerzensschreien zwingt.
Ich werde traurig, spüre, wie mir die Tränen in die Augen steigen,
und bin gleichzeitig froh, wieder ein wenig Schmerz zulassen und zeigen zu können.
Ich heile langsam und spüre Dich, kann Deinen Körper mich halten fühlen,
bin glücklich, dass Du mich hältst in diesem Moment des Schmerzes,
dass ich nicht alleine bin und in Deinen Armen liegen darf.
Manchmal glaube ich, alleine heilen geht gar nicht.
Und doch kann ich es nur alleine, nur ich alleine.

Auch die anderen im Raum haben mit sich zu tun: Die einen froh und erstaunt
über diese schöne Intensität und ihren Ausdruck und Reichtum,
andere bestürzt und tief traurig, vielleicht sogar verzweifelt ob des Gesichtes,
das alles sagt und alles zeigt, jede Sekunde der Vergangenheit,
offen, aber auch schonungslos ehrlich.
Wie gut, dass wir uns in diesen Momenten gehalten fühlen können,
in den Momenten, in denen wir in den Spiegel geblickt haben
und der Spiegel in uns, unser tiefstes Innerstes erreicht hat.
Begegnungen, da wünsche ich mir, mehr Zeit für mich zu haben.

Dann die Zeit, in der die Seele wieder baumeln konnte, Körper an Körper,
dicht an dicht, spüren, fühlen, bewegen, anschmiegen, geben und nehmen
als menschliche Geschwister, als eineiige Zwillinge der Fütterung.
Ich liege da und denke nichts, spüre in mich hinein,
bin warm und wohlig für mich und für andere.
Nach endlosen Minuten und etlichen liebevollen Umarmungen
kehren wir zu uns zurück. Der Abend klingt aus.

Im Tunnel der Berührung lassen wir uns abschließend verwöhnen,
jede und jeder auf ihre und seine Weise, mal langsam, mal schnell,
mal ruhig, mal bewegt, mal mit freiem Oberkörper, mal in Kleidung,
mal mit offenen, mal mit geschlossenen Augen.

Kein Gang nach Canossa, eher der "Gang der Zärtlichkeit" ließe sich
dieses liebevolle Ritual benennen, von dem ich mir wünsche,
es öfter erleben zu dürfen.

Und wieder finde ich Dank Euch inneren Frieden und Zufriedenheit.
Die Abschlussrunde öffnet mir Eure Herzen und Seelen mehr denn je.
Ich erfahre Intimes und Intimstes, Vertrautes, das sonst gut versteckt wird,
und auch ich kann mich öffnen, kann Euch von meinem Schmerz erzählen.
Und das Schöne ist: Ich darf da sein, mit allem, was ich bin,
mit allem, was ich habe, was mich ausmacht.

Die Vertrautheit ist da wie ein geschweißtes Band, ein Band,
das uns miteinander verbindet, ein Band, das unzerstörbar scheint.
Dieses Band ist wie unsere Spiritualität, unsere Geistlichkeit,
ein Band der Liebe, der Gemeinsamkeit, der Lust und der Magie,
wie ein einziger, großer lebendiger Organismus,
der behutsam mit sich und der Welt auf der Suche nach dem Leben ist.
Wir alle tragen dazu bei, und je mehr wir uns annehmen,
so wie wir sind, umso mehr kann jede und jeder von uns
das Leben, die Liebe und Lebendigkeit in sich spüren.
Und diese Erkenntnis verdanke ich Euch…

…ebenso wie die Erkenntnis, dass es nicht immer Fleisch sein muss,
es darf auch mal vegetarisch sein!

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