Meine Texte zum Nachhören und Nachlesen

Schwarze Kugel

Die schwarze Kugel

Die schwarze Kugel

Sie gingen langsam weiter, fast schon kraftlos, aber noch nicht völlig erschöpft. Es war eher ein Schleppen, geboren aus dem Willen, zu überleben. Die Landschaft um sie herum wirkte karg und trostlos, beinahe wie gestorben. Die Atmosphäre war stickig und auf eine seltsame Weise undurchdringlich. Nur ganz selten waren besonders helle Sterne am Himmel zu erkennen, aber schon das Heben des Kopfes bereitete Schmerzen. Von Zeit zu Zeit knackte ein Mikro. Niemand wusste, wie lange die Batterien noch durchhalten würden. Das Syncope-Glas war von außen beschlagen und erschwerte die Sicht. Aber wieso? Angeblich gab es hier doch keinen Sauerstoff! Ob es Ammoniakverbindungen waren? Das würde zumindest erklären, warum es keinen Wind gab und keinerlei Geräusche. Die Schallwellen konnten sich nicht ausdehnen. Alles schien eingetaucht, wie in einen tausendjährigen Schlaf.

Das Nachdenken fiel schwer. Seit mindestens einer Stunde hatte keineR von ihnen auch nur ein Wort gesagt. Sie bemühten sich, ihre Stimmung einander nicht anmerken zu lassen, obwohl sie wussten, dass ihre Chancen gering waren. Wieder knackte ein Mikro, die anderen konnten es hören. Aber vielleicht waren die Batterien in Ordnung, vielleicht waren es elektromagnetische Aufladungen, die sich über die Elektronik in den Anzügen entlud. Möglicherweise entstanden sie durch den Kontakt der Füße mit dem Boden. Der Boden, auch er war überaus seltsam. Es war ein Gefühl, als würden sie über einen riesigen Schwamm laufen, eine Art Sand; bei jedem Schritt das Gefühl als würden sie zentimetertief einsinken, aber sie hinterließen keinerlei Abdrücke, so, als wäre die Oberfläche gefedert.
Zudem war ohnehin kaum etwas zu erkennen, da über dem gesamten Grund eine hauchdünne, aber sehr dunkle neblige Schicht zu liegen schien, deren Zusammensetzung ihnen rätselhaft blieb. Sie bildete sich in unregelmäßigen Zeitabständen und war in Bruchteilen von Sekunden überall zu sehen, aber auf die gleiche Art verschwand sie auch wieder. Dennoch konnten sie beobachten, dass jeder ihrer Schritte eine Art Staubwolke aufzuwirbeln schien, obwohl die Oberfläche an sich keine Staubpartikel aufwies, das hatten sie bereits zu Beginn festgestellt. Auch das war eigenartig, und die Tatsache, dass sie sich bisher fast nichts erklären konnten, beunruhigte sie zusätzlich. Aber das war noch nicht alles. Irgendetwas stimmte auch mit der Landschaft nicht. Sie vermochten es nicht zu benennen, aber ihre Wahrnehmung war eindeutig.

Die Bergmassive, die das Tal in der Ferne und an den Seiten einrahmten, wirkten unecht und bedrohlich zugleich, so, als gehörten sie nicht hierher. Und doch ging von ihnen die gleiche unheimliche, bedrückende Stimmung aus, wie von allem, was sie jetzt noch wahrnahmen: dem Boden, den vielen schwarzen Steinen und Felsen, die überall zu sehen waren, der Atmosphäre und dem Himmel, der durch die gazeartige Schicht kaum auszumachen war. Es war aber ohnehin nicht viel zu sehen, da eine Art schwarzer Nebel die Sicht nur wenige Dutzend Meter freigab und daher ohnehin von nirgends her viel Licht zu ihnen hätte durchdringen können. Vielleicht war es gerade dieser nebelartige Dunst, der die Spannungen in der Elektronik verursachte und der sich irgendwie auf dem Sichtglas absetzte, das immer dunkler wurde, je weiter sie gingen.
Und wieder diese Stille, so, als ob sie von den umliegenden Gebirgszügen ausginge und das ganze Tal zudeckte. Schon das Knirschen der Schritte auf dem schwammigen, aber doch massiven Boden war nicht mehr zu hören. Diese unheimliche atmosphärische Beschaffenheit schluckte alle Geräusche, die mehr als etwa einen halben Meter von den hochsensiblen Außenmikrofonen der Anzüge entfernt waren.
            Der Untergrund schien langsam anzusteigen, was ihre Schritte noch schwerer werden ließ. Sie nahmen einander den schweren Atem war und warfen sich manchmal hilflose Blicke zu.

Die vier Frauen und Männer wirkten verloren in diesem Moment, in dem sie sich weiter vorwärts durch das endlose, weite Tal schleppten, das sie wie Gefangene erschienen ließ. Einer von ihnen zeigte auf den Boden und anschließend in die undurchdringliche Ferne, auf einen Punkt, an dem er eine Anhöhe vermutete, um den anderen zu signalisieren, dass sie sich dort ausruhen sollten. Die anderen nickten, so gut es die schweren Anzüge erlaubten. Allmählich schwanden ihre Kräfte und sie wurden immer langsamer; immer anstrengender schien jeder einzelne Schritt zu sein. Das schwarze Massiv und die Leblosigkeit der Landschaft schien sie förmlich auszusaugen. Sie liefen weiter, um den letzten Funken Hoffnung nicht aufzugeben.
Nach einer weiteren qualvollen halben Stunde konnten sie jetzt am Rande ihrer Sichtgrenze endlich die Anhöhe erkennen, die sie vorhin bereits vermutet hatten. Es waren noch etwa 60 bis 70 Meter, aber dieses Ziel ließ sie noch einmal all ihre Kräfte zusammennehmen. Entschlossen liefen sie darauf zu in der Erwartung, oder besser, in der Hoffnung, das Schiff wieder zu finden, das sie seit dem Sturm vor drei Tagen aus den Augen verloren hatten, dem Sturm, der ihnen ihre Orientierung total genommen hatte, der sie dieser Einöde so völlig ausgeliefert hatte, als sie dabei waren, eine erste Erkundung zu machen. Es waren nur noch wenige Meter, aber eine der Frauen sank entkräftet zu Boden, ohne dass die anderen es merkten. Sie blieb einfach liegen. Die anderen liefen auf die Erhöhung zu, die unmittelbar vor ihnen lag. Dann waren sie da. Sie hatten es geschafft.

Es war ein grauenvoller, schmerzender, wie von Todesangst getriebener, endlos gellender Schrei, der sie durchfuhr; der sie durchfuhr, als würde ihnen jemand ein meterlanges Messer vom Schritt aus durch den gesamten Körper stoßen, bis es den Kopf in der Mitte zerreißen würde, eine Verzweiflung, die wie in einer panischen Agonie förmlich explodiert, ein Gefühl, als würde ihnen jemand bei lebendigem Leib die Kehle Zentimeter für Zentimeter zuschnüren, dieser Schrei, so markerschütternd und grauenvoll, obgleich niemand von ihnen wirklich geschrieen hatte. Sie brachen zusammen, sanken auf den Boden und weinten. Um sie herum verschwand alles, mehr als zuvor.


Gemälde: Dunkle Rauchwolken steigen aus einem Krater empor.Vor ihnen lag ein gewaltiger Krater, an die hundert Meter tief und sicherlich mehrere hundert Meter breit. Seine Ränder und der Boden glichen der übrigen Landschaft dieses Planeten: kleinere und größere Felspartien durchzogen den gesamten Trichter in alle Richtungen; Geröll und Steine lagen überall und weit verstreut umher. Die Hänge waren recht steil und führten zum fast eiförmigen Grund des Kraters, der – ebenso wie die umliegende Landschaft – mit dieser seltsamen Schicht aus Schwamm und dunkler Nebelhaut bedeckt zu sein schien. Dennoch unterschied er sich doch in einem Punkt von seiner Umgebung: Eine unheilvolle, mit Worten kaum beschreibbare Ausstrahlung war von dem tiefen, undurchsichtigen Grund her spürbar, vage nur, aber trotzdem beängstigend; vom Schiff weit und breit keine Spur.

Nach einigen Minuten begannen die drei, sich langsam wieder zu fangen und aufzurichten. Erschöpft und unendlich verzweifelt bemühten sie sich um Fassung. Erst jetzt merkten sie, dass sie nur zu dritt waren. Erschrocken blickten sie sich um, starrten in den Abgrund. "Da!", rief einer, "da hinten!". Sie liefen den Abhang, den sie eben erklommen hatten, ein paar Meter hinunter, bis sie bei ihrer Gefährtin waren und versuchten, sie aufzuheben. Nach einigen Versuchen konnte sie wieder stehen. "Alles in Ordnung?", hörte sie jemanden fragen und nickte schwach. "Da drüben ist nichts, überhaupt nichts", vernahm sie eine andere Stimme und spürte, dass sie es längst wusste. Die drei stützten sie und gingen wieder zurück an den Abgrund, wo sie vor wenigen Minuten zusammengebrochen waren.
Sie blickten in die Tiefe, um ihr Schiff zu entdecken, das es nicht gab. Die Traurigkeit und Verzweiflung ergriff sie wieder und löste sich in heftigen Weinkrämpfen. Niemand sagte etwas. Sie standen nebeneinander, hielten sich fest und warteten. Irgendwann schienen sie eingeschlafen zu sein, als plötzlich eineR von ihnen rief: "Seht mal, der Nebel!" Mit einem Schlag waren sie wieder hellwach.
Die dunstige Atmosphäre, die sie eben noch umgeben hatte, die alles zu ersticken drohte, und die die ganze Zeit über ihre Sicht so begrenzt und alles Licht geschluckt hatte, war jetzt aufgeklart. Sie konnten kilometerweit in das Tal blicken, das sich hinter dem gewaltigen Meteoritenkrater fortsetzte. Die Gebirge an den Seiten waren weit massiver, als es ihnen vorhin erschienen war. Zahlreiche Sterne erleuchteten die weite Öde zwar immer noch spärlich, aber immerhin konnten sie die Landschaft um sich herum einigermaßen gut erkennen. Es fühlte sich an, als könnten sie wieder leichter atmen, sich freier bewegen, aber die seltsame, beklemmende Stimmung, die von der vor ihnen liegenden Tiefe ausging, war noch deutlicher spürbar, als zuvor, als ob ein fortgewehter Schleier diese Furcht einflößende Aura erst richtig freigegeben habe. Sie holten einige Male tief Luft und sahen sich um. Ein wenig Hoffnung schien wieder aufzukeimen.

Dann bemerkten sie, dass sich die dünne nebelhautartige Gaze am Grund des Kraters enorm verdichtet hatte und bis auf zwei Drittel der Einschlagshöhe dieses riesigen Trichters ausgebreitet hatte. Der Schreck ließ sie bleich werden und zurückweichen. "Mein Gott", sagte jemand kaum hörbar, aber alle hatten es verstanden. Sie klammerten sich noch enger aneinander und beobachteten aus einigen Metern Entfernung den langsam weiter aufsteigenden Nebel. "Was ist das?", fragte einer der Männer ängstlich und mit gebrochener Stimme. Niemand beantwortete seine Frage. Alle starrten gebannt auf diese undurchdringliche, schwarze Masse. Plötzlich blieb sie stehen. Wieder atmeten sie tief durch. Der Krater sah jetzt aus, als beherberge er einen großen, klaren Gebirgssee, kalt, und mit einer fast glatten Oberfläche.
Minuten verstrichen, ohne dass etwas passierte. Dann, urplötzlich und völlig geräuschlos wich die Gaze in der Mitte des Sees auseinander und in unendlicher Langsamkeit stieg etwas empor, das sie nicht genau erkennen konnten. Starr vor Entsetzen und unfähig, auch nur ein Wort zu sagen, blickten sie wie gebannt auf das Gebilde, das sich vorher auf dem Grund des Kraters befunden haben musste. Eine andere Erklärung dafür hatten sie nicht. Dennoch sah es so aus, als bildete es sich erst im Moment des Emporsteigens aus der umliegenden Gazeschicht. Mit quälend langsamer Gleichmäßigkeit stieg dieses unbekannte Ding höher und höher. Es dauerte bestimmt mehr als zwanzig Minuten, bis es sich von der nebelartigen Oberfläche des Sees gelöst hatte und weiter aufwärts fuhr. In einer Höhe von etwa zehn Metern blieb es über dem Gazesee stehen. Es bewegte sich nicht.

Gemälde: Am Kraterrand schauen Astronauten auf die schwarze Kugel.Ganz allmählich konnten sie erkennen, was da aufgestiegen war. Es war eine gewaltige schwarze Kugel, eine Kugel, die so glatt und schwarz war, wie sie es nie zuvor gesehen hatten, so glatt und schwarz, dass sie eine seltsame Angst ergriff. Aber sie schien sich nicht zu bewegen. Sie verharrte in ihrer Position und es sah aus, als ob nichts in der Welt imstande wäre, sie auch nur um einen Millimeter zu verrücken. Gleichsam neugierig und gebannt gingen die vier wieder zwei, drei Schritte auf den See zu, doch nichts passierte. Noch immer starrten sie unablässig auf das große, runde, schwarze Ding vor und über ihnen.

Nach und nach begannen sie, etwas Eigenartiges zu spüren. Es war dieses unheimliche, angsteinflößende Gefühl, das sie schon die ganze Zeit über wahrgenommen hatten, das sie sich nicht erklären konnten, deshalb auch wieder verdrängt hatten, und das jetzt – im Angesicht dieser Kugel – noch viel stärker da war. Aber es war nicht einfach nur am See und nicht nur vor und über ihnen oder um sie herum, nein, es war in ihnen, es durchdrang ihre Körper, mehr und mehr, schließlich ganz, von oben bis unten war es in jeder einzelnen Faser spürbar, leicht nur, aber deutlich, geradezu unheimlich. Es war auf eine furchtbare Art und Weise klar und deutlich, fühlte sich an, wie eine geheimnisvolle Materie, die unaufhaltsam in sie eindrang. Es war wie eine Macht, die sich über sie und in ihnen ausbreitete, mit der gleichen quälenden Langsamkeit, mit der diese Kugel aus dem See emporgestiegen war. Hilflosigkeit überkam sie und mischte sich damit. Angsterfüllt und mit schweißnasser Stirn unter den engen und beschlagenen Helmen ließen sie einander los. Sie konnten nicht anders. Sie mußten sich einfach gehen lassen. Jede Berührung war unerträglich.
Die Augen und Münder weit aufgerissen, fühlten sie, wie dieses mächtige Schwarz einfach in sie hineinkroch, Stück für Stück. Schreien und Weglaufen war unmöglich, sie dachten nicht einmal daran. Sie standen da und spürten, wie ihre panische Angst sich mit der grenzenlosen Traurigkeit, die dieses Gefühl des Verlassen-Seins in ihnen auslöste, zu etwas mischte, das wie eine gewaltige Depression war. Dieser Schmerz war schier unerträglich. Und langsam wuchs er an, wurde stärker und stärker. Alles schien zu verschwimmen und zu verschwinden. Die anderen waren bereits nicht mehr wahrnehmbar. Jetzt waren sie allein – mit sich – und mit dieser unerbittlichen, dämonischen Kugel.

Das Schwarze und die Depression füllten mittlerweile den gesamten Körper aus. Da war nichts mehr, was noch ihnen gehörte, was ihre Persönlichkeit ausmachte; das grauenvolle Gefühl, als würden sie in sich selbst ertrinken. Vor ihren Augen alles schwarz und doch konnten sie diese teuflische Kugel noch immer klar sehen. Der Schmerz und die Angst drückten sie zusammen, als erdrückten sie sich selbst. Außer der Kugel nahmen sie jetzt nichts mehr wahr. Sie spürten, wie sie langsam starben, langsam und unaufhaltsam, und sie konnten sich nicht dagegen wehren. Sekunde um Sekunde schwanden ihre Erinnerungen, Denken ging nicht mehr, nur noch blankes Fühlen, verdammt, alles zu fühlen. Der Mund ausgetrocknet, die Augen schmerzverzerrt und angespannt, blieb der Blick unabwendbar auf das schwarze, runde Nichts gerichtet. Sie spürten, wie ihre Körper Zelle für Zelle abstarben, ruhig und gleichmäßig, von innen nach außen – der eigene Tod wurde immer gegenwärtiger. Auch die Depressionen wurden noch immer stärker und schlimmer und vernichteten sie unaufhaltsam. Eigentlich hätten sie längst bewusstlos sein müssen, doch das Gehirn und die Sinnesorgane funktionierten weiter.

Sie nahmen noch wahr, das alles zu erlöschen begann, das ganze Leben, wie eine Hülle, eine Hölle. Der Tod war greifbar nahe, nein, er war mehr als das, er war da, er war anwesend, in ihnen und breitete sich immer weiter aus. Die Brust und der Hals, angefüllt mit unaufhaltsamem, schwarzem Sterben, keine Luft mehr, da war nichts mehr, nichts – nur diese Kugel. Es war, als würde alles aus dieser Kugel in sie eindringen und sie damit füllen, bis sie platzten. Aber es war kein überlaufen, es war anders, es war, als würde dieses Etwas alles löschen, auslöschen und auflösen, den Geist und die Persönlichkeit selbst zum Tod treiben, der kontinuierlichen Vernichtung entgegen. Diese Grausamkeit war mörderisch, sie war unerträglich. Ein letztes Mal nahmen sie vage diese riesige, schwarze Kugel wahr - dann war es vorbei. Alles war vorbei. Alles. Sie waren tot. Leblos sanken ihre Körper auf den Boden und wirbelten für einen Moment kleine Wölkchen des rätselhaften, unerklärlichen Staubes auf. Dann bildete sich wieder diese seltsame nebelartige, dunkle Gaze und schloss sie ein.

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