Meine Texte zum Nachhören und Nachlesen
Kleiner Schlüssel
Der kleine Schlüssel
Der kleine Schlüssel
Es war einmal ein kleiner Schlüssel. Der war noch so klein, dass Mama-Schlüssel und Papa-Schlüssel ständig auf ihn aufpassen mussten. Und immer, wenn er etwas angestellt hatte, drohte Papa-Schlüssel: "Pass bloß auf, sonst ist der Bart irgendwann ab!" Eines schönen Tages schien draußen die Sonne und der kleine Schlüssel wurde neugierig. Da verließ er einfach kurzerhand das elterliche Loch und begann, die Welt zu erkunden. Da er als kleiner Schlüssel noch aus Zinn war, hatten die Eltern immer wieder vor so genannten "heißen Quellen" gewarnt, doch was sollten das bloß für Geschöpfe sein? Er wusste es nicht, und so spazierte er durch den Garten, sah zum ersten Mal in seinem jungen Schlüsselleben eine Wiese, Blumen, Schmetterlinge, den Himmel, die Sonne und das Meer... – halt, das Meer? Quatsch, da war ja gar kein Meer... also, er sah den Himmel und die Sonne und kein Meer, genau. Aber das würde ja vielleicht noch kommen, irgendwann.
Er freute sich und ging weiter. Dann kam er zum Gartentor. Als er sah, dass es da auch ein Loch gab, kletterte er rasch hoch und rief: "Hallo, hallo!" Aber niemand antwortete. "Hallo, hallo!", rief er noch einmal, aber auch diesmal antwortete ihm niemand. Er kroch durch das Loch hindurch und auf der anderen Seite wieder hinunter. Dann ging er den Bürgersteig entlang. Als ein Hund vorbeikam, erschrak er, denn er hatte noch nie einen gesehen. Aber der Hund lächelte und sagte freundlich: "Hallo, kleiner Schlüssel!" Der kleine Schlüssel war so verdutzt, dass er gar nichts sagen konnte, und weil er nicht wusste, was er jetzt machen sollte, lächelte er einfach zurück. Und da war der Hund auch schon weitergelaufen.
Kurze Zeit später begegnete ihm ein Schlüsselbein, das grüßte ihn kurz und sagte, es hätte es leider sehr eilig und darum müsse es jetzt weitergehen. "Seltsame Geschöpfe gibt es", dachte der kleine Schlüssel. Er drehte sich noch einmal um, und da war es bereits um die nächste Ecke verschwunden. Als er an einem Baum vorbeikam, sah er von der Ferne plötzlich ein Schild, darauf stand: 'Schlüsseldienst – diskret und preiswert'. Er ging langsam darauf zu und als er ganz nah war, sah er im Schaufenster ganz viele Schlüssel, große und kleine, Mama-Schlüssel und Papa-Schlüssel, und weil er so etwas noch nie gesehen hatte, ging er durch die Tür neben dem Schaufenster. Drinnen stand hinter einer großen Theke aus Holz ein großer Mann – nicht aus Holz. Der schaute ihn argwöhnisch an und meinte: "Nein, nein, mein Kleiner, das hier ist nichts für kleine Schlüssel, geh' mal schnell wieder nach Hause!" Der kleine Schlüssel erschrak so sehr, dass einige seiner kleinen Zacken verrutschten und nahm die Zähne in die Hand. Er lief und lief, bis er an eine Kreuzung kam. Da verschnaufte er erst einmal.
Als er sich umsah, sah er viele Autos, die fuhren über diese Kreuzung und andere, die standen nur so herum und hatten dadurch einen ganz geringen ökonomischen Nutzungsgrad, und er sah Autoschlüssel, als Menschen ihre Autos abstellten, damit sie einen ganz geringen ökonomischen Nutzungsgrad bekommen. Er rief ihnen zu: "Hallo, hallo, hier bin ich!" Aber keiner der Schlüssel hörte ihn. Da ging er über die Straße in die Fußgängerzone. Kaum war er ein paar Schritte gelaufen, schnappte ihn plötzlich eine Katze. Er schrie: "Lass mich sofort los, sonst kannst Du was erleben!" – "Was denn?", fragte die Katze. "Wart's ab!", schrie der kleine Schlüssel böse und pfiff mit aller Kraft durch seine Zähne. Er pfiff so laut, dass sogar der große Hund ihn drei Kreuzungen weiter noch hören konnte, denn er hatte sehr gute Ohren, und er kam angerannt und gerannt, und als er bei der Katze war, fing er ganz laut an zu bellen, und die Katze bekam so viel Schiss, dass sie den kleinen Schlüssel ganz schnell fallen ließ und davonrannte.
Der kleine Schlüssel war noch ganz benommen, und als er den großen Hund wieder erblickte, fragte er: "Wo hast Du denn so laut bellen gelernt?" – "In Bellheim", antwortete der große Hund. "A-ha", sagte der kleine Schlüssel, bedankte sich noch mal und sagte, wenn er mal was für den großen Hund tun könne, solle er ganz einfach dreimal laut bellen. Der Hund sagte: "Gut, das mache ich", und verschwand anschließend in einer Seitenstraße.
Der kleine Schlüssel stand wieder auf und da roch es auf einmal nach Kuchen. Ooh, Kuchen. Der kleine Schlüssel liebte Kuchen. Als er sich umschaute, entdeckte er, woher dieser leckere Geruch kam. Rechts vor ihm war eine Bäckerei. Da wollte er sich Kuchen holen. Aber er hatte kein Geld dabei. Er überlegte kurz und dann hatte er eine Idee: Neben der Bäckerei war ein Kino. Er konnte keine Menschen sehen, daher war wohl gerade Vorstellung. Die Kassiererin war nicht zu sehen. Er schlich sich zum Schalter, kletterte hoch bis zum Kartenfenster, krabbelte durch die schmale Öffnung und schloss mit sich selbst die Kasse auf. Was nämlich die meisten Menschen nicht wissen: Fast alle Schlüssel können fast alle Schlösser aufmachen, weil sie nämlich ihre Zähne so lange hin- und herschieben können, bis sie passen. Nur meistens tun sie es nicht, wenn sie für Menschen arbeiten, weil sie einander die Arbeit nicht wegnehmen wollen und wenn jeder Schlüssel nur seine Arbeit macht, können umso mehr Schlüssel friedlich miteinander leben.
Nun nahm sich der kleine Schlüssel ein bisschen Geld heraus und lief direkt zur Bäckerei. Er schlüpfte durch den Eingang und stellte sich hinter einer Frau an. Als er an der Reihe war, kletterte er mühsam auf die Theke und wollte gerade eine Brezel kaufen, als er den Mann hinter sich sagen hörte: "Ich hätte gern zwei Schrotbrötchen und ein Vollkornbrot." Bevor er protestieren konnte, sah er, wie ihn der Bäcker überrascht anstarrte. Dann griff er sich den kleinen Schlüssel und rief: "Frau Sowieso, ihr Schlüssel!" Frau Sowieso, die schon auf dem Weg zur Tür war, drehte sich um, kam zurück, schaute den kleinen Schlüssel ganz streng an und sagte: "Nein, das ist nicht mein Schlüssel!" – "Oh, entschuldigen Sie bitte", sagte der Bäcker, "dann muss ihn jemand anderes hier vergessen haben. Ich werde ihn beiseite legen." Und er nahm den kleinen Schlüssel und legte ihn hinter die Theke neben den Korb mit den frischen Brötchen. Der kleine Schlüssel stand auf und sah nun ganz viele große Körbe. Sie rochen alle gut. Der Bäcker griff in den Korb vor seiner Nase und holte die zwei Schrotbrötchen heraus, die der unverschämte Mann haben wollte, der sich so vorgedrängelt hatte. Was sollte er nun tun? Sein Magen knurrte und er wollte unbedingt etwas essen. Er lief an das linke Ende von dem Brett, auf dem so viele Körbe standen und erklomm den letzten mit einem Sprung. Als er am Griff war, reckte er sich nach oben und lugte vorsichtig über den Rand. Seine Augen begannen zu leuchten: Brezeln! Da waren Brezeln! Aaah, endlich konnte er Brezeln essen! Er nahm eine heraus, zog sie zwischen zwei Körbe und biss mit voller Inbrunst und seinen kleinen Zähnen hinein. Mjamm, die war vielleicht lecker!
Er mampfte und mampfte und irgendwann konnte er nicht mehr. Die halbe Brezel hatte er bereits gegessen. Da er nicht wusste, wann er wieder etwas zu essen bekommen würde, beschloss er, sie mitzunehmen. Er schlich sich aus dem Verkaufsraum und verschwand durch den Hinterausgang. Nachdem er eine Hofeinfahrt durchquert hatte, befand er sich wieder in der Fußgängerzone mit den vielen Geschäften und den herrlichen Gerüchen. Der kleine Schlüssel schlenderte so durch die Stadt und sah noch ganz, ganz viele Dinge, die er noch nie zuvor gesehen hatte: winzige Nikoläuse, die in Reih' und Glied in Läden standen, Meerschweinchen, die sich in kleinen Käfigen langweilten, Kinder, die fangen spielten, einen Rollstuhl ("sowas muss sehr bequem sein", dachte er, "weil du dann nicht die ganze Zeit laufen musst, fast so wie ein Auto, nur gemütlicher"), einen Mann mit grauen Haaren, der auf dem Boden saß und Musik machte, und ab und zu kamen andere Menschen und legten Geld auf ein Tuch vor dem Mann. "Ich hab' ja auch noch Geld", dachte der kleine Schlüssel, "das habe ich in der Aufregung vergessen, dem Bäcker für die Brezel hinzulegen, und jetzt brauche ich es nicht mehr. Dann kann ich es auch dem Mann geben, wenn er so lustige Musik für alle macht." Der kleine Schlüssel ging mit seiner halben Brezel auf dem Arm ganz nah an das Tuch vor dem Mann heran, und gerade, als er die Brezel ablegen wollte, um sein Geld hervorzuholen, erblickte er rechts von sich einen anderen Schlüssel, der pfiff und tanzte zu der Musik von dem alten Mann.
"Hey, Du, wer bist Du denn?", fragte der kleine Schlüssel. Der andere Schlüssel hörte ihn nicht. "Hey!", rief er noch mal und etwas lauter, "Hey, wer bist denn Du und was machst Du da?" Jetzt hörte ihn der pfeifende und tanzende Schlüssel und sah zu ihm rüber. Und ohne das Pfeifen und Tanzen zu unterbrechen, rief er zurück: "Ich? Ich bin ein Musikschlüssel, das siehst Du doch!" – "Ich habe noch nie einen Musikschlüssel getroffen", gab der kleine Schlüssel zu verstehen. "Ach so", sagte der Musikschlüssel und erklärte: "Wir Musikschlüssel müssen immerzu tanzen und pfeifen, wenn wir Musik hören, das macht nämlich unheimlich Spaß und ist lustig. Probier es doch auch mal!" Irgendwie war das dem kleinen Schlüssel unheimlich, aber er nahm all seinen Mut zusammen, legte die halbe Brezel beiseite und begann wie der Musikschlüssel zu tanzen und zu pfeifen. "Pfffffh, pfffffh", machte der kleine Schlüssel, aber es klang nicht so, wie beim Musikschlüssel. Er konnte zwar durch die Zähne pfeifen, aber dieses Pfeifen hier, das war ganz anders. "Pfffffh, pfffffh", machte der kleine Schlüssel immer wieder. "Schon ganz gut", sagte der Musikschlüssel, "Du musst nur noch ein bisschen üben, dann wird das schon." Der kleine Schlüssel versuchte so zu tanzen und zu pfeifen wie der Musikschlüssel, und es ging ziemlich gut, und es machte sogar Spaß. "Pfffffh, pfffffh", probierte er wieder und nachdem sie zwei Lieder getanzt und pfeifen geübt hatten, machten sie eine Pause.
"Ich muss jetzt bald nach Hause", sagte der Musikschlüssel, "aber vielleicht sehen wir uns ja mal wieder. Die Musik gibt es jeden Freitag hier und ich bin dann meistens auch hier." – "Ist gut", meinte der kleine Schlüssel, "dann bis später mal." Sie beschlossen, doch noch ein Stück zusammen weiter zu gehen, und bevor sie sich aufmachten, warf der kleine Schlüssel noch sein Geld auf das Tuch vor dem Mann, der so lustige Musik machte. Dann bogen sie in eine Seitenstraße ein und bevor sie sich trennten, teilten sie noch die halbe Brezel. Dann sagten sie einander Tschüß. Der Musikschlüssel ging nach rechts und der kleine Schlüssel ging nach links und er übte noch ein bisschen: "Pfffffh, pfffffh..., pfffffh, pfffffh."
Auf einmal sah der kleine Schlüssel die ersten Sterne am Himmel, denn es war dunkel geworden. "Oh", dachte er, "das sieht aber schön aus!", und er bestaunte die ganzen Lichter in den Straßen und den Häusern. Plötzlich hörte er ein Knistern, das immer lauter wurde, je näher an den großen Park kam, den er schon von weitem sehen konnte, und von dem er Mama-Schlüssel und Papa-Schlüssel schon hatte erzählen hören. Ja, das musste er sein. Er sollte riesig groß sein und schön. Dann war er auf einmal ganz nah an dem großen Park, und er konnte sehen, woher das große Knistern kam: Auf einer Wiese ein Stück vor ihm war ein großes Feuer. Darum herum saßen Menschen und redeten, und einer machte traurige Musik auf einem komischen Instrument mit vielen Fäden. Die Wiese war ganz weit und mit vielen bunten Blumen, und um die Wiese waren hohe Bäume auf der linken Seite, die waren das Ende von dem Park. Sie wuchsen aus dem Boden raus, und die ersten Bäume waren gar nicht so weit weg von dem kleinen Schlüssel, links am Rand der Wiese standen sie, einer an dem anderen, und sie umrahmten die Wiese wie einen Gartenzaun bis auf die gegenüberliegende Seite hinten rechts, nur eben viel höher.
Der kleine Schlüssel war total beeindruckt von den Bäumen und auch von dem Feuer. Er ging darauf zu und wurde immer neugieriger. Die Musik war jetzt viel lauter und er probierte wieder: "Pfffffh, pfffffh", aber es klappte noch nicht so ganz. Das Feuer faszinierte ihn, und er wollte unbedingt wissen, wo das Knistern herkommt, und weil es sich so anhörte, als käme es aus dem Bauch des Feuers, ging er einfach hinein. Er stieg durch die Flammen, wühlte sich zwischen glühenden Ästen und Kohlen hindurch und konnte das Knistern jetzt ganz laut hören. Es war richtig unheimlich, aber auch schön. Er hörte eine Weile zu, wie es um ihn herum knisterte und wie die Musik noch spielte. Und er merkte gar nicht, dass er langsam zu Boden sank. Erst als die Glut und die Flammen an seinen Augen vorüber hoch wanderten, fiel ihm auf, dass nicht das Feuer es war, das hinauf zu steigen schien, sondern dass er selbst nach unten zu sinken begann. Erschrocken schaute er an sich herunter und sah, dass seine Zacken zu schmelzen begannen.
Oh weh, die schönen Zacken. Jetzt dämmerte ihm wieder, wovor ihn seine Eltern immer wieder gewarnt hatten: vor heißen Quellen! Er wollte sogleich wegrennen, aber es ging nicht. Die Fußzacken waren schon richtig zusammengeflossen und konnten ihn nicht mehr tragen. Er fiel einfach um. Da nahm er seine Handzacken und zog sich an einem langen Ast Stück für Stück nach draußen, bis er durch die Flammen hindurch war, wieder an der frischen Luft. Er atmete tief ein und war ganz glücklich, dass er der Gefahr noch einmal knapp entkommen war. Aber er musste sich beeilen: Er konnte seine Füße nur so lange zurückformen, so lange er noch ganz heiß war, und so setzte er sich ins Gras vor dem Feuer und drückte und zog und schob und klopfte an sich, bis seine Fußzacken wieder so aussahen, wie vorher. Dann ließ er sie kalt werden. Als sie eine Weile abgekühlt waren, stand er auf und probierte sie aus. Es lief sich sehr gut damit. Sie passten wunderbar und waren so gelungen wie vorher. Aah, Glück gehabt!
Der Himmel über ihm wurde immer dunkler und so beschloss er, langsam nach Hause zu wandern. Er verließ die noch immer redende und singende Gesellschaft und ging über die ganze Wiese an den Blumen vorbei. Plötzlich hörte er eine Stimme: "Hallo, kleiner Schlüssel, wie geht's Dir?" Er sah sich um, aber er konnte niemanden entdecken. "Hallo, hier oben bin ich", hörte er die sanfte Stimme wieder sprechen. Er blickte nach oben und sah eine große, bunte Blume, die sich über ihn beugte und ihn anlächelte. "Hallo, wer bist Du denn?", fragte der kleine Schlüssel. "Ich bin eine Schlüsselblume", sagte die Schlüsselblume. "A-ha, und was ist das?", fragte der kleine Schlüssel. "Ich bin das", sagte die Schlüsselblume, "ich bin eine entfernte Verwandte von Dir, ich gehöre nämlich zur Großfamilie der Schlüssel und damit auch zu Dir." – "A-ha, ach so ist das", machte der kleine Schlüssel wieder, "na dann, dann wünsche ich Dir noch alles Gute, weil, ich muss jetzt nach Hause, weil es schon dunkel wird. Also dann, bis bald!" – "Ja, bis bald, und grüß' mir auch die anderen Schlüssel, wenn Du sie siehst, ja?" – "Ja, mach ich", erwiderte der kleine Schlüssel und winkte ihr zum Abschied zu. Nach ein paar Schritten rief ihm die Schlüsselblume noch hinterher: "Und grüß' auch die Schlüsselbeine, die Musikschlüssel, die Schlüsselrollen, die Schlüsselfiguren und so von mir, ja?" – "Versprochen!", rief der kleine Schlüssel, ohne sich noch einmal umzudrehen und lief über die Wiese, bis er dann durch zwei von den riesigen Bäumen hindurch ging, die auf die Straße führten.
Er lief wieder den Bürgersteig am Rande des Parks entlang in Richtung des elterlichen Schlüssellochs. Aber wo das genau war, wusste er auch nicht. Er ging einfach weiter dahin, wo er glaubte, den tollen Garten wieder zu finden, den er heute morgen zum ersten Mal in seinem jungen Leben gesehen hatte. Schornsteine rauchten, Fenster waren erleuchtet, eine Katze miaute in der Ferne und er erschrak leicht, denn der Schreck, den ihm die böse Katze heute Morgen eingejagt hatte, saß ihm noch immer in den Zinnverbindungen. Von irgendwoher drang leises Hundegebell. Und wieder hörte er die Katze, aber diesmal war es wohl eine andere, vielleicht stritten auch zwei um einen Schlüssel. Nein, was für ein schrecklicher Gedanke, sie stritten sicher um einen Vogel oder einen Fisch oder sonst etwas, oder gar um eine Dose Kit-e-Kat. Allerdings blieb dann immer noch die Frage, woher der Dosenöffner kommen sollte. Naja, das war dem kleinen Schlüssel ziemlich egal.
Er hörte wieder das Hundegebell. Eine ganze Zeit lang begleitete es ihn, und auf einmal erkannte er: Der Hund bellte immer dreimal, schon die ganze Zeit, immer genau dreimal. Oje, das war sein Freund, der seine Hilfe brauchte. Der kleine Schlüssel horchte genau hin, um herauszufinden, woher das Bellen kam, und dann rannte er in die Richtung, aus der er das Bellen vernahm. Immer schneller rannte und rannte er. Jetzt konnte er es schon viel lauter hören. An einer großen Kreuzung bog er nach links ab und dann die nächste Straße rechts hinein, und da sah er seinen Freund schon von weitem auf dem Bürgersteig stehen, mit dem Gesicht zu einem Haus und hörte wieder, wie er dreimal bellte. "Hey, hallo!", rief er bereits aus der Ferne und rannte, so schnell ihn seine Zähne trugen, auf den Hund zu. Kurz bevor er ihn erreicht hatte, rief er wieder, nein, er brüllte fast schon: "Hey, hallo, Duuu, hier bin ich, ich bin daaa!" Jetzt hörte ihn der Hund, drehte seinen Kopf, und als er den kleinen Schlüssel erblickte, freute er sich, wedelte mit dem Schwanz und meinte: "Oh, wie gut, dass Du da bist, kleiner Schlüssel, Du musst mir helfen." – "Wie denn?", fragte der kleine Schlüssel. "Ich kann nicht in mein Haus zurück, die Tür ist zu, und meine Familie schläft schon. Kannst Du mir nicht aufschließen?" – "Doch, bestimmt", sagte der kleine Schlüssel, "warte, ich probier's mal. Bringst Du mich eben zur Tür, dann versuch ich's mal." – "Gut", sagte der Hund und brachte ihn zur Tür.
Der kleine Schlüssel kletterte hoch bis zum Schlüsselloch und steckte sich hinein. Dann ertastete er die Lücken und schob seine Zähne hin und her, aber er passte einfach nicht. "Was ist?", fragte der große Hund von unten. "Es geht nicht", antwortete der kleine Schlüssel, "aber ich habe noch eine Idee, vielleicht geht es damit." Dann hörte der Hund, wie der kleine Schlüssel tief Luft holte und zu Glucksen und Blubbern begann und stöhnte, und plötzlich rief er: "Hurra, es geht, ich passe, ich hab's geschafft. Jetzt musst Du mich nur noch mit Deinen Pfoten herumdrehen und dann die Klinke herunterdrücken, dann ist die Tür auf!" Der Hund nahm den kleinen Schlüssel ganz vorsichtig in seine rechte Vorderpfote und drehte ihn zweimal herum. Dann drückte er mit der anderen die Klinke herunter und die Tür ging auf. "Hey, das hast Du toll gemacht, wie hast Du das geschafft?", fragte der große Hund. "Zuerst habe ich versucht, die Zacken ein wenig hin und her zu schieben, aber das hat nicht funktioniert. Und dann habe ich einen Trick probiert. Ich hab' tief Luft geholt und ein paar von meinen Zacken getauscht, die oberen nach unten und die unteren nach oben, und dann ging es ganz leicht", berichtete der kleine Schlüssel stolz. "Das hast Du gut gemacht", lobte ihn der große Hund und bedankte sich vielmals.
Der kleine Schlüssel war froh, dass er dem großen Hund hatte helfen können und wollte gerade Lebewohl sagen, als ihm einfiel, dass er ja gar nicht wusste, wo denn sein zu Hause war. Mama-Schlüssel und Papa-Schlüssel machten sich bestimmt schon Sorgen. "Kannst Du mir helfen, nach Hause zu kommen?", fragte der kleine Schlüssel den großen Hund, "denn ich weiß nicht mehr, wo das genau ist." – "Das ist gar kein Problem", meinte da sein Freund, "wir Hunde sind sehr gut beim Suchen und Finden von Schlüsseln und anderen Dingen. Ich muss dafür nur mal kurz an Dir riechen, aber keine Angst, das tut überhaupt nicht weh." – "Ist gut", meinte der kleine Schlüssel, "riech nur!" Der große Hund kam mit seiner dicken, lustigen Nase ganz dicht an den kleinen Schlüssel heran und beschnupperte ihn vom Kopf bis zu den Zähnen. Anschließend hob er die Nase in die Luft und roch in den Wind hinein. "Ich glaub', ich hab' eine Spur", meldete der Hund nach unten und wollte sogleich losziehen.
"Moment!", hielt ihn der kleine Schlüssel zurück, "wenn Du jetzt weggehst, dann weht der Wind die Tür wieder zu, und Du kommst nicht mehr hinein!" – "Das stimmt", meinte der Hund, "was machen wir da?" Beide überlegten einen Augenblick. "Kannst Du Dir nicht eben einen Zwillingsschlüssel holen?", fragte der kleine Schlüssel, denn so nennen die Schlüssel ihre Geschwister, die so aussehen, wie sie selbst, auch wenn die Menschen immer 'Zweitschlüssel' dazu sagen. "Nein, das geht nicht, weil, wir haben nur einen Schlüssel für die Tür, und da komme ich nicht dran." – "Ach so, na, dann müssen wir uns was anderes ausdenken", meinte der kleine Schlüssel und wieder dachten sie nach. "Ich hab's", sagte da der große Hund plötzlich ganz aufgeregt, "wir müssen einfach verhindern, dass die Tür wieder zuschlägt." – "Und wie willst Du das machen?", wollte der kleine Schlüssel wissen. "Das ist ganz einfach", sagte der große Freund, "ich habe hier im Garten noch einen Knochen vergraben, als Vorrat sozusagen, als Proviant für Notsituationen." – "Dann lass' ihn lieber verbuddelt, sonst hast Du später mal nichts mehr zu essen", gab der kleine Freund zu bedenken. "Zu fressen", korrigierte ihn der große Hund. "Was?", fragte der kleine Schlüssel verwirrt. "Zu fressen", wiederholte sein Freund, "bei uns Hunden heißt das nicht essen, sondern fressen, und außerdem ist jetzt eine Notsituation. Ich kann ja dann wieder einen Neuen vergraben. Das macht nichts." – "Na gut, dann hol' ihn", stimmte ihm der kleine Schlüssel zu.
Der Hund verschwand in den Garten und kam zwei Minuten später mit einem großen Knochen zurück. Er legte ihn in die Türschwelle und zog die Tür mit der Schnauze bis zum Knochen zu, um zu sehen, ob es klappte. Der kleine Schlüssel, der inzwischen wieder aus dem Schlüsselloch heraus- und die Tür heruntergeklettert war, sah, wie die Tür leicht an den Knochen schlug. "Es klappt", rief er begeistert, "jetzt kannst Du mich nach Hause bringen!" – "Ja, jetzt können wir los, aber vorher muss ich nochmal die Witterung aufnehmen, weil ich sie durch meinen Knochen nämlich verloren habe", erklärte der große Hund und schnupperte wieder an seinem kleinen Freund. Dann reckte er die Nase nochmal in die Luft, und als er die Spur wieder gefunden hatte, nahm er den kleinen Schlüssel, rollte ihn vorsichtig in seine große, warme Zunge und begann loszulaufen. In Windeseile ging es voran. Immer wieder blieb der große Hund mit dem kleinen Schlüssel stehen, um die Witterung zu prüfen und lief dann weiter. Nach wenigen Minuten blieb er vor einem alten Gartentor stehen, schnüffelte noch einmal, sprang dann darüber hinweg, lief bis zur Haustür und schnüffelte wieder.
Dann sagte er: "Das muss es sein, ich glaube hier wohnst Du, kleiner Schlüssel." Der kleine Schlüssel blickte in das Schlüsselloch, dann blickte er noch einmal um sich und meinte: "Ja, ich glaube, das ist es. Vielen Dank auch." Der kleine Schlüssel kletterte von der Schnauze auf den Türknauf und von da aus in das Schloss. "Kein Problem", meinte der große Hund, "du wohnst nur ein paar Häuser von mir entfernt in einer Nebenstraße, ich bin schnell wieder daheim." – "Au, das ist ja toll, dann können wir uns ja mal besuchen und zusammen spielen, oder?" – "Ja, das können wir machen", antwortete der Hund, "das wird bestimmt lustig." – "Gut, dann noch mal vielen Dank und bis bald... und gute Nacht!", sagte der kleine Schlüssel zum Schluss noch. "Ja, gute Nacht, Dir auch, und tschüß!", verabschiedete sich der große Hund, lief durch den Garten und sprang über das Tor. Der kleine Schlüssel sah ihm noch nach, bis er aus seinem Blickfeld verschwunden war, dann verschwand auch er in seinem Schloss. Er wollte schnell schlafen gehen, denn Mama-Schlüssel und Papa-Schlüssel würden morgen bestimmt wissen wollen, wo er denn gewesen sei, und da musste er ja wieder munter sein, um ihnen all die aufregenden Abenteuer erzählen zu können, die er heute den ganzen Tag über erlebt hatte. Und vielleicht würde er nachmittags sogar noch ein bisschen "Pfffffh, pfffffh" üben oder nach seinem neuen Freund, dem großen Hund pfeifen, um mit ihm zu spielen.
ls