Meine Texte zum Nachhören und Nachlesen

Aushalten - Teil 2

Aushalten - Teil 2

Ich habe viel ausgehalten,
ich habe vieles ausgehalten
und ich habe etwas verändert:
Ich sorge mehr für mich,
und das ist gut so,
das fühlt sich wirklich richtig gut an,
fast jeden Tag treffe ich jetzt eine Entscheidung,
bei der ich merke, dass ich gerade ein Aushalten beendet habe –
was für ein großartiges Gefühl!
Und doch spüre ich: Da ist noch mehr!
Das Thema ist noch nicht gegessen.
Ich muss tief durchatmen!
Was ich früher ausgehalten habe, ist unglaublich,
ich habe unvorstellbare Schmerzen ausgehalten,
Schmerzen und Ängste, vielleicht sogar Todesängste,
körperliche und seelische,
habe sogar versucht, mich schlafend zu stellen,
als mein Vater wieder und wieder in mich eindrang,
mich vergewaltigte und mir meine kindliche Würde nahm,
mich sexuell missbrauchte, um seine Lust auf Macht und Sex
an mir zu befriedigen, Gott allein weiß, wie lang…

Allzu lange habe ich das nicht ausgehalten,
dann habe ich reagiert:
Mit nervösen Tics, mit Zunge rausstrecken und Grimassen schneiden,
mit Kopfschütteln, mit schlagenden Armen und Schmerzensschreien,
das Tourette bahnte sich langsam aber stetig seinen Weg,
und auch das musste ich aushalten,
und das mussten vor allem andere aushalten,
meine Familie, Freunde und Freundinnen, Bekannte und Verwandte, Unbeteiligte,
20 Jahre lang –
haben wir zusammen ausgehalten, was ich allein nicht aushalten konnte,
und das war so wichtig für mich!

Heute halten meine Schmerzen und meine ambivalenten,
lustvollen und leidvollen Gefühle andere aus:
Menschen, die nicht wirklich existieren,
Menschen, die keinen realen Schmerz empfinden,
Menschen, die sich gegen das, was ich Ihnen antue, nicht wehren wollen,
es sind meine Phantasiefiguren, Menschenfiguren,
die ich in meinen sexuellen Phantasien leiden lasse,
die ich zwinge, unangenehme oder schmerzhafte Situationen auszuhalten,
so lange ich das will, so lange es mich zufrieden macht,
bis ich sie wieder davon befreie, sie freilasse und loslasse,
bis zum nächsten Mal…

Oft genug komme ich mir dann wie ein Täter vor,
ein Täter, der sich seine Opfer sucht,
der sich Menschen sucht, um sie zu demütigen und zu quälen,
die Lust entsteht aus der Macht, der absoluten Allmacht,
das habe ich mit Tätern gemein –
was mich von ihnen unterscheidet, ist,
das ich keine lebenden Opfer brauche,
meine Opfer reagieren nicht wirklich mit Schmerzensschreien
oder mit körperlichen und seelischen Verletzungen,
ich brauche nicht die Realität, mir reicht die Welt der Phantasie,
das ist, was mich von realen Tätern unterscheidet,
und ich bin froh, dass es diesen Unterschied gibt,
bin froh, mich in diesem Punkt von meinem Vater zu unterscheiden,
kein wirklicher Täter zu sein,
ich lasse meine Phantasiefiguren leiden,
und dass die das aushalten müssen,
ich glaube, das kann ich gut aushalten,
zumindest heute, denn ich weiß,
dass ich damit niemandem weh tue…

ähnlich wie mit meinem Tourette,
auch damit tue ich heute niemandem mehr weh,
die aggressiven Tage sind vorbei,
vorbei die Zeiten der zerschmissenen Gläser und Flaschen,
den Scherbenhaufen habe ich hinter mir gelassen,
um nach vorn zu blicken,
und nur noch ab und zu zeigen sich mal ein paar Tics oder ein Schrei,
um daran zu erinnern, dass das mal ganz anders war,
heute lässt sich mein Leben gut aushalten,
und dass ich soweit gekommen bin,
darauf kann ich wirklich stolz sein…

…und das bin ich auch!

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