Textkunst von Akimaus
Der Krebs und der Hinkefuß
Petra wurde mit einer Besonderheit geboren, einem Merkmal, welches sie auszeichnete und gleichzeitig anders machte als all die anderen Kinder in ihrer Umgebung. Ihr rechter Fuß war kleiner als ihr linker und beim Gehen entstand eine hinkende Bewegung. Ihre Eltern sagten Petra immer wieder, dass das ihr Glücksfuß sei, ganz ähnlich wie die Glücksflosse aus dem Film „Findet Nemo“, bei dem gleichnamigen Charakter des kleinen Clownfisches. Petra lernte schnell und ihr Glücksfuß wurde ihr treuer Begleiter. Sie lief, rannte und tobte wie all die anderen Kinder auch. Für Kinder, die sie nicht kannten, war dieser Umstand recht seltsam anzusehen. Sie fragten sich, was denn bloß mit ihr los sei oder ob sie klarkäme. So lernte Petra schnell, wer ihre wahren Freunde waren. Sie war mehr als nur ihr Fuß, sie war sportlich, aktiv, jung, dynamisch, lustig und auch mal traurig und niedergeschlagen. Petras Traum war es, Tänzerin zu werden und eines Tages die Bühnen dieser Welt zu verzaubern und für sich zu gewinnen. Ihr Fuß sollte ihr Merkmal sein, welches sie aus den Massen hervorhob und ihr Wiedererkennungswert geben sollte.
Der Weg war am Anfang steinig. Raus aus ihrem kleinen Kaff, auf der beständigen Suche nach Menschen, die sie verstanden, musste sie erst erlernen, an ihrem Traum festzuhalten, nicht aufzugeben und mit Rückschlägen zu leben. So wurde sie eines Tages an der Dance Academy in Washington DC aufgenommen. Es war ein kleines renommiertes Tanzstudio, welches die Nachwuchskünstler von morgen förderte. Petra arbeitete unterdessen kontinuierlich weiter an sich, sie hatte eine klare Vision vor Augen und das erfüllte sie im Inneren mit unglaublicher Genugtuung.
Dann kam die Diagnose.
Eines Abends, nach einem Auftritt, tastete sie ganz unauffällig ihre Brüste in der Garderobe ab. An ihrer rechten Brust zeichnete sich ein kleiner, kaum wahrnehmbarer Knoten ab. Dezent und unscheinbar hatte sich das Geschwulst eingenistet und würde von nun an ihr Leben bestimmen. Petra war es von jeher gewohnt, stark zu sein, sie öffnete sich nicht jedem Menschen. Sie ging jede Woche dreimal zur Chemo und anschließend arbeitete sie weiter an sich und ihrer jeweiligen Performance. Sie nahm ihre Tanzstunden, probte weiter zu Hause, aß, legte sich für drei bis vier Stunden schlafen und begann wieder von vorne mit dem Kreislauf aus Routinen, die sich doch stetig veränderten.
Es wurde nicht besser. Sie fühlte sich so schwach und kraftlos an manchen Tagen. Einmal musste sie sich während einer Performance übergeben. Sie schaffte es nicht mehr, die Toilette aufzusuchen und erbrach sich in einen nebenstehenden Papierkorb, ungeachtet der Augen und Blicke der anderen. Ihr Stolz ließ sie einsam werden. Petra empfand zunehmend eine Entkopplung von sich und der außenstehenden Welt um sie herum. Fremde Menschen, die sie nicht kannten, nahmen ihren hinkenden Fuß wahr und fragten, ob sie Hilfe bräuchte, ob alles in Ordnung sei. Der dahinterliegende Tumor, der beständig wuchs, ihr Leben auszehrte und mehr und mehr Raum verlangte, den sahen sie nicht. Wie denn auch, wenn sie beständig schwieg. Petra hatte nie gelernt, ihre Bedürfnisse nach außen gegenüber Fremden zu kommunizieren. Selbst wenn sie dies täte, so wusste sie nicht, wie sie die Blase zwischen sich und den anderen Mitmenschen überwinden könnte, hatten diese doch ihr eigenes Leben, mit ihren eigenen Lasten und Sorgen. Der Konkurrenzkampf war hart. Jeder wollte der Beste sein auf seinem Gebiet. Für Schwäche gab es da keinen Platz. Der Druck war groß und erschien übermächtig. So etwas wie eine Teamdynamik existierte nicht. Gleichzeitig gab es auch einzelne Menschen und Gruppen, die sich nach Feierabend verabredeten, um zusammen Spaß zu haben. Petra war kein Teil davon. Ihr Leben passte einfach nicht darein, wenngleich sie es gewollt hätte. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, um sich zu zeigen. Sie wollte nicht die anderen mit ihrer eigenen Last erdrücken und gleichzeitig war diese Distanz unüberbrückbar geworden für sie.
Der Krebs und das Hinkebein.
Eines Abends wurde Petra von einer alten Frau angesprochen. Petra war zuvor einkaufen gewesen und trug ihre Lebensmittel zur gegenüberliegenden U-Bahn, um damit nach Hause zu fahren. Da trat die alte Frau auf sie zu. Ihre Gesichtszüge waren tief und eingefallen. „Ich sehe, Sie haben eingekauft“, sagte sie mit einer zittrigen Stimme, „soll ich Ihnen beim Tragen der Besorgungen behilflich sein? Das muss ja wirklich schwierig sein mit diesem Fuß.“ Am liebsten hätte Petra angefangen zu weinen und ihre Fäuste auf den Boden zu rammen. Sie hatte die Lüge des Fußes bereitwillig angenommen, um gehört zu werden. Sie wollte kein Mitleid, sie wollte Anteilnahme. Sie hing an ihrem Leben und wollte nicht, dass es sich so rapide veränderte. Tanzen war ihr Traum und sie lebte ihren Traum derzeitig, aber zu welchem Preis?
Petras inständigster Wunsch war es, nur ein einziges Mal zu zerbrechen, einmal komplette Schwäche zu zeigen, aber nicht hier, nicht bei dieser fremden Frau, die sie nicht kannte. Nicht in diesem Kontext, nicht in diesem Szenario. Das erschien ihr falsch. Und so tat sie das, was sie stets tat. Sie wendete ihren Blick zu der alten runzeligen Dame und schenkte ihr ein mildes Lächeln. Dann entfernte sich ihr Blick und blieb indessen auf der Einkaufstüte verharren. Petra formte mit ihren Lippen ein „Vielen Dank, ich komme zurecht. Danke der Nachfrage.“ So ging ein jeder seiner stillen Wege. Petra nahm jene besagte U-Bahn und fuhr zu sich nach Hause. Es war ein kleines Apartment, in dem sie sich sporadisch eingerichtet hatte. Die Treppe zu ihrer Wohnung war alt und hatte schon viele Füße getragen. Die einzelnen Stufen quietschten. Als sie aufschloss, führte sie ihr erster Gang zum Badezimmer. Die Tüte mit den Lebensmitteln wurde ungeachtet in eine Ecke geworfen. Sie rannte zum Waschbecken und erbrach sich. Als Petra in den Spiegel schaute, nahm sie einen Finger und begann, ihre Haare darin herumzuwickeln. Die Struktur ihrer Haare fing an, sich zu verändern. Sie waren dünner geworden, fast fragil. Die Chemotherapie hatte ihre Spuren hinterlassen und sie konnte einzelne Büschel herausziehen. Sie sah sich erneut im Spiegel an und dachte für sich: „Vielleicht sollte ich die Haare kahlrasieren. Wenn ich stark genug wäre, könnte ich mich der breiten Masse zeigen. Eine Künstlerin mit Glatze und Hinkefuß, beides zusammen vereint in mir. Doch an dem Punkt bin ich noch nicht.“ Wie lange würde sie den Druck noch standhalten können? Ihrem eigenen Druck?
In ihrem Umfeld gab es wahre Freunde, Menschen, denen sie sich anvertrauen konnte. Hier konnte sie sich fallen lassen, Zeit für sich gewinnen und auftanken. Auch zog sie Energie aus der Einsamkeit. In stillen Momenten fing sie an, Texte zu schreiben. Vielleicht sehnte sie sich nur nach Harmonie, vielleicht war das ihre Form der wahrhaftigen Freiheit. Sie wusste es nicht. Sie hing an dem Alten und war nicht bereit für das Neue, Kranke, welches sie mit offenen Armen erwartete und sich mit jedem Atemzug nährte. Gleichzeitig war alles eingebunden in eine beständige, kontinuierliche Entwicklung. Sie wollte, dass die Menschen ihr zugrundeliegendes Wesen erkannten und gleichzeitig nicht verletzlich sein. Dann vielleicht, so dachte sie, hatte ein Fremder gar nicht verdient, ihren Kern zu sehen. Dieses Privileg sollte ihrem engsten Freundeskreis vorbehalten bleiben. So verweilte Petra, in ihre Gedanken versunken, immer noch vor dem Spiegel im Badezimmer, und über sie legte sich die tiefe Nacht.
Jeden Tag kämpfen, jeden Tag gefragt werden, wie sie mit dem Hinkefuß klarkäme, währenddessen sie selbst beständig wahrnahm, wie die Krankheit in ihr voranschritt und immer mehr und mehr ihren Tribut einforderte. Diese Dissonanz schien ihr beinahe surreal.
Einfach leben, das war ihr Ziel.
Nachwort:
Ich hoffe so sehr, dass Petra irgendwann tanzen wird, dass sie der Welt zeigen kann, was in ihr schlummert als Tänzerin und Künstlerin, und sie den Mut aufbringt, sich selbst zu zeigen. Sie kahlköpfig, erzählt vom Leben und gleichzeitig präsent ist und unbeugsam. Am Ende zählt nur eines: dass sie sich im Spiegel anschauen und sagen kann: „Ich hab’s für mich gut hinbekommen, die Performance, die sich das Leben nennt.“
Akina Klee, 12.07.2024