Textkunst von Akimaus

Die Revolte der Vogelmenschen

Es war einmal ein weit entferntes Land. In diesem Land lebten menschenähnliche Wesen. Sie unterschieden sich von ihrem äußeren Erscheinungsbild nicht sonderlich von uns bis auf die Tatsache, dass sie Flügel besaßen, aber nicht etwa die eines Engels. Nein, ihr Gefieder war bunt und farbenfroh. Die Farbe war ihnen nicht unwillkürlich angeboren – nein, sie wurde im Laufe des Lebens erworben. Je nach den unterschiedlichen Lebensbedingungen veränderte sich die Farbe ihres Gefieders.

So wunderte es keinen, dass der älteste und weiseste unter ihnen, der „große Sultan“, wie sie ihn nannten, das größte und bunteste Gefieder von allen besaß. Die Spannweite seiner Flügel überschritt die all der anderen. Jede einzelne Feder in seinem Kranz leuchtete in einer anderen Farbe. Das Licht der Sonne reflektierte sich in diesem wie in einem Spiegel und sein Gezwitscher ähnlicher Ruf tönte durch die ganze Szenerie.

Die Vogelmenschen lebten in den Wipfeln der Bäume. Dort hatten sie sich ihre Häuser erbaut. Sie ernährten sich von Hülsenfrucht ähnlichem Obst, das sie selbst dort oben in den Ästen anbauten, sowie von Regenwürmern, die sie in mühsamer Kleinstarbeit auf dem erdigen Boden suchten. Die Suche und das Einfangen der flinken und wendigen Tiere gestalteten sich allerdings als sehr schwierig, denn der Boden war zu matschig und undurchdringlich. Daher sah man sie als eine Delikatesse an und man speiste sie nur zu besonderen Anlässen.

Einer dieser besonderen Anlässe war etwa dann, wenn ein Vogelmann sich unter den vielen jungen und hübschen Vogelfrauen eine seiner Wahl herauspicken durfte, um mit ihr den Balztanz zu vollziehen. Alle Männer forderten nacheinander die anwesenden gebärfähigen Vogelfrauen zum Tanz auf. Beide drehten sich zueinander um die eigene Achse und spreizten dabei ihre Flügel empor. Dabei schienen ihre Körper inmitten dieses Tanzes eins zu werden und völlig zu verschmelzen. Ziel war es, dass zwei Partner den perfekten Tanz tanzten. Welcher Tanz der perfekteste war, entschied natürlich niemand geringerer als „der große Sultan“ selbst. Diese Tradition bestand seit Beginn der Zeit und wurde deshalb nicht hinterfragt. Jene, denen es gelang, sollten für immer zusammenbleiben und ein glückliches Leben miteinander führen. Das Volk der Vogelmenschen war ein sehr friedliebendes. Die Gemeinschaft stand im Mittelpunkt ihrer Kultur. Jeden Abend traf man sich, um gemeinsam zu singen. Ja, das Leben schien perfekt. Allerdings gab es auch Nichtflugfähige unter ihnen. Die sogenannten „Flügellosen“.

Diese Wesen waren Wesen zweiter Klasse. Sie wurden von den Vogelmenschen eingesetzt, um in den dunklen Gängen des Untergrundes nach Regenwürmern zu graben. Die Arbeit war hart und kräftezehrend. Manche von ihnen besaßen lediglich einen intakten Flügel. Diese waren etwas besser gestellt: Sie bauten sich eine Maschine, einen sogenannten „Flug-Verstärker“, den sie sich an ihre Schwingen anhefteten. Dieser wurde durch Elektrizität betrieben und musste immer zwölf Stunden aufgeladen werden. Doch dadurch waren die Kreaturen mit einem Flügel in der Lage, am gesellschaftlichen Leben der Vogelmenschen teilzunehmen.

Mit Hilfe des Kraftverstärkers rotierte ihr einer Flügel wie ein Propeller in der Luft. Diese Maschine erntete selbst bei denen, die zwei Flügel besaßen, Respekt und Anerkennung, denn dadurch waren sie in der Lage, aufrecht – beinahe freischwebend – in der Luft zu stehen, ähnlich einem Kolibri, der aus einer Blüte Nektar trinkt.

In der Gruppe der Flügellosen gelang es einigen, sich durch ständiges Trainieren Muskelmasse in den Armen und Beinen anzueignen, sodass sie die Baumkronen durch selbständiges Hinaufklettern erreichten. Doch das war eher die Ausnahme als die Regel und obendrein sehr, sehr gefährlich. Von denjenigen, die es versuchten, kamen viele zu Tode. Besonders kluge und gewiefte Flügellose baten diejenigen, die zwei Flügel besaßen, um Hilfe. Oder sie bezahlten diese und stellten sie unter ihre Dienste: Hierzu schmuggelten sie heimlich einige Regenwürmer nach draußen, anstatt sie ordnungsgemäß in Körben abzugeben. Die Regenwürmer dienten dem „großen Sultan“ als Nahrungsquelle. So trug einer mit zwei Flügeln nicht selten einen anderen, der keine besaß, um gemeinsam die hohen Baumwipfel zu erreichen. Für die meisten aber blieb ihr Leben jedoch trist und fad. Denn solche Wesen, die gar keine Flügel besaßen, waren recht selten in der Population vertreten. So kamen etwa auf 1000 Vogelmenschen, die zwei Flügel hatten, nur 100 solcher, die einen besaßen und ungefähr 20 Flügellose.

Das Seufzen unter ihnen war groß. „Was ist denn falsch daran, auf dem Boden zu leben? Wir sind genauso viel Wert wie die anderen, die fliegen können!“ So hörte man die Flügellosen untereinander reden. „Das Problem ist, dass wir für uns alleine nicht viel ausrichten können. Wir müssen uns zusammentun mit den anderen Wesen von den anderen Wäldern, denen es genauso geht, wie uns. Zusammen könnten wir uns beim „großen Sultan“ beklagen.“ Diejenigen, die flugfähige Vogelmenschen für ihre Dienste bezahlten, beschlossen, sie in die weit entfernten Wälder hinauszusenden. Es bildeten sich regelrechte Schwärme. Sie flogen nach Ost und West, nach Nord und Süd. Einige von ihnen überquerten Bäche und Flüsse und sogar den großen Pazifik. Sie flogen über Wiesen und Steppenlandschaften. Sie flatterten unermüdlich. Am Tage und in der Nacht. Die Sonne ließ ihr Gefieder in Rot erglühen. Die Abenddämmerung erleuchtete ihr Federkleid in einem hellen Orange. Und das Licht des Mondes schenkte ihnen einen tiefblauen Farbton. Nach und nach fanden die Vogelmenschen mehr und mehr jener, die nicht imstande waren, zu fliegen. Sie alle wurden gerufen, sich zu versammeln, und sie alle folgten diesem Ruf.

Dann schließlich, am 999sten Balztanz war es soweit. Unzählige flügellose Wesen und solche, die einen Flügel besaßen, versammelten sich unter der großen Staude, da, wo der „große Sultan“ immer zu tagen pflegte, und klagten ihm ihr Leid. Ihr Gekreische und ihr Gezwitscher reichte bis zu dem höchsten Punkt der Baumkrone und störte das ausgelassene Feiern und Gelächter der anderen. Dort hatte ihr Balzritual schon begonnen. Und wenngleich sie dort oben die einzelnen Schreie mitanhörten, so unternahmen sie doch nichts gegen diese. „Was haben diese Arbeiter, dieser im Dreck wühlende Pöbel, schon zu melden?“ brüskierte man sich oben voller Verachtung. „Lasst uns hinauf! Wir wollen das auch! Lasst uns hinauf! Wir wollen das auch!“, ertönte unten zu Fuße der Staude ein immer schriller werdendes Gezwitscher, bis es kein Halten mehr gab. Die assistierenden Zweiflügler und jene, die einen Flügel besaßen, umfassten jeweils einen Flügellosen und flogen mit ihm zu dem Festival. Entsetzt hielt man inne und die Klänge verstummten. Noch nie seit Beginn der Zeit war so etwas geschehen. Unerhört war das! Alle Anwesenden murmelten und tuschelten, als der „große Sultan“ sich den Unruhestiftern langsam näherte, um sie zu beäugen. Doch anstelle harter Worte zeichnete sich langsam ein Staunen auf seinem Gesicht ab. Das Gefieder der Eindringlinge glich seinem eigenen. Aber wie war das möglich? Er selbst hatte Jahrhunderte gebraucht, um sich all das Wissen und all die Erfahrungen, die sich in der Mannigfaltigkeit der Farben seines Gefieders niederschlugen, anzueignen. Nun sah er sich mit Hunderten ihm ebenbürtigen Vogelmenschen konfrontiert. Sie hatten ihr Wissen und ihre Lebenserfahrungen durch die lange Reise innerhalb weniger Monate genährt. Auch die Spannweite ihrer Flügel war jetzt deutlich größer, als die des Anführers, da sie sich nur von den Regenwürmern, die ihnen die Flügellosen als Gegenleistung für ihre Dienste bescherten, ernährten.

In dem Moment der Stille ergriff ein Flügelloser das Wort: „Siehe her, oh, heiliger „großer Sultan“, wir, die Ihr für Euch arbeiten lasst, sind ebenfalls Teil des großen Stammes der Vogelmenschen. Und auch wenn wir nicht die Fähigkeit innehaben, zu fliegen, so verfügen wir doch über Fähigkeiten und Stärken, die Eure Fähigkeiten in mancher Hinsicht übersteigen. Wir haben uns auf das Graben von Gängen in der Dunkelheit spezialisiert. Wir verfügen über Erfahrungen, und wir wissen, wie man Regenwürmer ausfindig macht und fängt. Doch wir sind erschöpft. Die Arbeit ist sehr hart und anstrengend. Wir verlangen nicht viel. Wir wollen nur das Gefühl haben, ein gleichwertiger Teil dieses Stammes zu sein. Diejenigen, die über zwei Flügel verfügen und sich uns angeschlossen haben, um mit uns für das Gute und für das Gerechte einzustehen, sind von ihrer langen Reise gereift und gestärkt zurückgekehrt. Ihr Gefieder leuchtet Eurem nun ebenbürtig.“ Als er das sagte, drehte er sich zu den anderen Vogelmenschen hin und fuhr fort: „Ihr kennt die Regeln dieses Stammes! Derjenige mit dem schönsten Gewand und der größten Spannweite soll unser Anführer sein, aber jetzt sind es mehrere, auf die das zutrifft – nein, wir alle können von nun an entscheiden und zusammenleben, wenn wir nur alle gemeinsam für die anderen einstehen! Ihr mit den Flügeln könnt emporfliegen, wir, die keine oder nur einen Flügel besitzen, verfügen aber über andere Fähigkeiten. Wir haben nur das Pech, in einer Welt zu leben, die nicht auf unsere Bedürfnisse ausgerichtet ist. Wir leben in einer für uns ungeeigneten Welt. Daher lasst sie uns gemeinsam verändern!”

Und so geschah es, dass jeder der mindestens einen Flügel besaß, ein buntes Gefieder bekam. Man half sich gegenseitig und stärkte sich gemeinsam. Es wurden Häuser auf dem Boden errichtet, genauso wie Leitern, die zu den Baumkronen führten.

Jeder glich die Schwächen des anderen aus und ergänzte sich untereinander. Somit wurden die Klassen allmählich aufgehoben. Nun waren alle einander gleichwertig und gleichgestellt auf ihre ganz besondere Art. Und die Vogelmenschen lebten von nun an in einem wahrhaftigen friedvollen Miteinander zusammen.

Manche der flügellosen Wesen bildeten gezielt Gemeinschaften unter sich. Sie richteten ihr Leben in ihrer Gesellschaft so aus, dass sie dort mit zwei Beinen und ihren beiden Händen ohne Probleme den Alltag bestreiten konnten: Sie bauten Siedlungen und Handelswege aus, entwickelten Schiffe und Züge. Über die Jahrhunderte hinweg gaben sie sich selbst den Namen „Mensch“, und mit der Zeit vergaßen sie, dass es unter ihnen Wesen mit Flügeln gab. So gut war die Gesellschaft an ihre Fertigkeiten inzwischen angepasst und normalisiert worden.

Auf einem Marktplatz laufen viele Menschen ungestüm umher. Sie kaufen und verkaufen Lebensmittel, Obst und Gemüse an Ständen. Inmitten dieses Trubels bahnt sich eine blinde Frau ihren Weg. Sie führt einen Blindenstock über die einzelnen Ausbuchtungen des Asphalts. Ab und zu hält sie inne, um sich zu orientieren. Menschen kommen ihr immer wieder entgegen und fragen sie, ob sie vielleicht Hilfe bräuchte? Dass es doch sicherlich für sie schwierig wäre, sich in so einem Wirrwarr von Menschen zurechtzufinden! Manche schauen sie mitleidig an. „Was die arme Frau sich da antue? Viel zu langsam sei sie auf den Beinen unterwegs.“

Da lächelt die Frau und sagt: „Ich bin dankbar für Eure Hilfe und gebe gern Bescheid, wenn ich welche brauche. Aber schenkt mir kein Mitleid, denn ich kenne mich aus. Vielleicht mache ich die Dinge anders als ihr, weil es mir die Umstände abverlangen. Vielleicht brauche ich ab und an etwas länger – auch das mag gewiss sein – aber ich lese den Boden unter meinen Füßen wie die Seiten eines Buches. Ich kenne jeden Stein und jede kleine Mulde auswendig. Vielleicht sieht es von außen etwas schwieriger aus, doch bedenkt immer: Ich lebe und bewege mich in einer Welt, die nicht für mich gemacht ist. Ich lebe dennoch in ihr, und das macht mich in gewisser Weise stärker als ihr alle zusammen.“

Die Menschen schauen sich verdutzt an. „Ja, das stimmt! Daran haben wir noch gar nicht gedacht.“ – „Nun gut,” lacht die Frau aus voller Brust, „Ich will Euch sodann eine Geschichte erzählen…”

 

Akina, 10.11.2016

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