Textkunst von Akimaus

Das unsichtbare Spiel mit der Norm

Das unsichtbare Spiel mit der Norm

Spontane Gedanken während des Besuches eines Freundes meiner Familie

Anmerkung der Verfasserin: Der nachfolgende Text ist durchaus sehr zynisch formuliert – ich bin mir dessen bewusst – denn er soll durch seine zuspitzende Wirkung den Leser zum Nachdenken anregen. Mir liegt es fern, Menschen persönlich zu kränken oder zu beleidigen. Sollte es dennoch auf den einen oder anderen so wirken, möchte ich mich hierfür im Vorfeld entschuldigen.

Manchmal hasse ich die sogenannten normalen Menschen, die ihre Fähigkeiten, ihre körperlichen Funktionen als das Normalste der Welt erachten. Ein Freund meiner Familie ist bei meinen Eltern zu Besuch. Ich hasse es, wenn sie wie selbstverständlich und beiläufig ihre eigenen Lebensläufe rekonstruieren. Er erzählt von seinen Töchtern: Sie seien beide 22 Jahre alt. Also erheblich jünger als ich. Sie reisen gerade um die Welt: „Und toben sich aus“, so bezeichnete er das. Ich hingegen mit meinen 25 Jahren bin schon froh, wenn ich selbstständig, ohne jegliche Vorkehrungen, quer durch Deutschland mit dem Zug fahren kann, um Freunde zu besuchen (und selbst das wird nicht als selbstverständlich, sondern von Außenstehenden als bewundernswert erachtet) oder allein in Mainz rumlaufe, oder besser gesagt: „rumrolle“. Mir sagte mal eine an mir vorbeigehende Frau, die mich in der Innenstadt ansprach: „Das ist ja selten, dass man jemanden im Rollstuhl so ganz alleine antrifft.“

An diesem simplen Beispiel erkennt man die Differenz der Lebensentwürfe, und das nur, weil ich eine Behinderung habe. Wenn ich aus mir heraus vorschlagen würde, irgendwo anders auf dem Planeten „work and travel“ zu machen, würden die Leute mich verdutzt anstarren und sagen, dass das lächerlich sei und nicht umsetzbar wäre. Sie würden mir den Gedankengang von vorneherein ausreden und sagen: „Traust du dir das wirklich zu? Ist das nicht zu viel? Hast du keine Angst davor, so ganz alleine?” Und das wäre noch der beste Fall. Im schlimmeren Fall würden sie mich in meinem Vorhaben einfach ignorieren. Wenn ich dann trotz der – von der Gesellschaft initiierten und gesetzten – erheblichen Widerstände und Einwände mein Vorhaben durchsetzen würde, würden die Medien über mich berichten und meinen ungeheuren Mut hervorheben. Wenn aber im Gegensatz dazu Tausende von minderjährigen Jugendlichen dieses Unterfangen selbstständig durchführen, rühmt sie kein Schwein für ihren Mut und ihre Taten (das sieht man aktuell anhand der Flüchtlingskrise sehr gut).

Daran erkennt man doch schon die Perversion der sogenannten Normgesellschaft. Alleine durch ihr Verhalten, ihre Reaktionen auf meine Person, wird die „gelebte Normalität“, wie sie den anderen – ohne Behinderung – in einer nicht hinterfragbaren Selbstverständlichkeit zuteilwird, für mich – als Mensch mit Behinderung – direkt im Keim erstickt.

Es ist dieses unsichtbare Spiel mit den Erwartungen der Gesellschaft, dass bei dem Einzelnen ganz bestimmte Verhaltensweisen in den unterschiedlichen Lebensabschnitten vorausgesetzt werden. Der Erwartungsmaßstab, mit dem man misst, ist für behinderte Menschen jedoch von vorneherein ein erheblich anderer – und das nur aufgrund des Merkmals der Behinderung – und genau das ist das Diskriminierende daran!

Aber dass die Menschen über ihr kategorisches Denken hinaus reflektieren und sich mit dieser Thematik befassen, ist in unserer Gesellschaft – im Alltagsgeschäft der anderen – zu viel verlangt. In dem Verhalten der Menschen steckt ja auch keine böswillige Absicht, da es ihnen erst wahrhaftig ins Bewusstsein rücken müsste, um ihnen eine böswillige Absicht zu unterstellen. Aber sie denken nicht mal darüber nach: Sie nehmen alles als gegeben hin. Es ist einfach so. Norm ist Norm. Ein statisches Gebilde, das für sie nicht wandelbar ist.

Nein, selbst über den Normbegriff haben sie im Regelfall noch nie reflektiert. Warum auch? Die auf sie, an ihre Lebensbedürfnisse angepasste und zugeschnittene Welt – der Sehenden, der Laufenden, der Hörenden – funktioniert ja auch. Sie haben sich ihre Welt so gebaut, wie es ihnen gefällt. Die Andersartigkeit ergibt sich erst, wenn man in dieser vorbefindlichen Selbstverständlichkeit nicht zurechtkommt, sich anders in dieser Welt bewegt. Das ist dann ja nicht mehr normal.

Vor diesem Hintergrund ist es auch kaum verwunderlich, warum ich mit meinen 25 Jahren noch zuhause wohne. Niemand hinterfragt diesen Umstand (und damit eingeschlossen die Gäste meiner Eltern, die uns besuchen), dass ich mit meinen 25 Jahren noch im elterlichen Haus lebe und mein Alltag dort zubringe. Denn ich bin ja nur das sehbehinderte, spastische Kind im Rollstuhl, aber selbst das wissen sie nicht. Sie sehen nur, DASS ich im Rollstuhl sitze, und das alleine reicht schon als Indikator aus, um mich dementsprechend unbewusst in meinen Fähigkeiten und Handlungsspielräumen vorzuverurteilen. Würde ich mich hingegen in ihrem Feld der Normalität bewegen, müsste ich mir von den anderen regelmäßig Sprüche anhören und mich wiederum regelrecht rechtfertigen, warum ich denn in meinem Alter noch daheim wohne, warum ich mir in den langen drei Monaten der vorlesungsfreien Zeit keinen Ferienjob suche und überhaupt noch nie erwerbstätig war. Aber so scheinen sie ja alle die vermeintliche Antwort auf all diese Fragen zu kennen. Die ist halt behindert. Fertig.

Zugegebenermaßen ist das manchmal auch durchaus praktisch. An mich wird nicht der äußere Erwartungsdruck der Gesellschaft herangetragen. Ich muss mir in meiner Situation keinen Nebenjob suchen oder mich – wie gesagt – dafür rechtfertigen. Man erwartet es schlichtweg nicht. Wo wir gerade schon dabei sind: Welche Erwartungen hat die Gesellschaft überhaupt an Menschen mit Behinderung? Nicht viele, so scheint es mir. Außer vielleicht Passivität, Selbstmitleid und Dankbarkeit für die Verrichtung von Hilfsaufgaben durch andere.

Wenn ich dann allerdings beschließen würde, in meine eigenen vier Wände zu ziehen, würden sie ganz voller Hochachtung gucken und sagen: „Sie zieht alleine aus – wirklich? Kann sie das denn?“ Meine der Norm entsprechenden „gesunden“ Mitmenschen sind einfach nur krank: Sie verkommen im Laufe ihrer Sozialisation zu abgestumpften, unreflektierten Subjekten, die ihre Welt nicht mehr hinterfragen. Nicht ich bin es, die über das gesellschaftliche Konstrukt der Normalität und das scheinbar Alltägliche nachdenkt und die ganze zugrunde liegende Thematik analysiert: Mein sogenanntes „krankes“ Umfeld auf der Mikroebene tut mir nicht mehr gut. Solange ich hier verweile, werde ich immer in die Rolle des Kindes gepresst werden, dass seit mehreren Jahren bereits schon die Schwelle zur Volljährigkeit überschritten hat.

Es erscheint mir jetzt, wo ich darüber nachgedacht habe, so unwirklich, beinahe schon wie eine Farce, ein Rollenspiel, in dem ich mich bewege, bewegen muss. Mir tun diese Menschen in ihren tradierten Normvorstellungen, welche sie selbst kontinuierlich reproduzieren, und in denen sie doch allesamt – einschließlich meiner Wenigkeit – gefangen sind, Leid: Denn sie wissen nicht einmal um ihre eigene Gefangenschaft. Das unterscheidet mich von Ihnen. Daher erkenne ich jetzt auch, wie unglaublich töricht und bemitleidenswert sie deshalb eigentlich sind.

Akina, 19.03.2017

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